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7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Nur wenige deutsche Arbeiter hatten in den frühen 1870er Jahren überhaupt von Karl Marx gehört oder wussten irgendetwas über seine Theorien des Klassenkampfs oder der Revolution. Unter jener kleinen Gruppe hingen noch viele den Lehren eines anderen (damals schon verstorbenen) Sozialistenführers an, Ferdinand Lassalle. Während der Laufzeit des Sozialistengesetzes (1878-1890) bauten die Sozialdemokraten ein umfassendes Untergrundnetzwerk mit Agenten, Kurieren, Propagandisten und Wahlhelfern auf. Gemäßigt durch die praktische parlamentarische Arbeit August Bebels, Wilhelm Liebknechts und anderer sozialdemokratischer Parteiführer im Reichstag und in den Landtagen, gewannen mit der Zeit immer mehr Arbeiter die Überzeugung, dass eine geschlossene Parteistruktur, ein unabhängiges Netzwerk kultureller Vereine, politischer Protest und das Prinzip „alle Mann an Deck“ am Wahltag die besten Mittel waren, um einen Staat zu bekämpfen, der sie als Verbrecher abgestempelt hatte (D16, D24, D25, D26, D27, D28, B16, B17, B18, B19, B20). Als Folge stieg zwischen 1878 und 1890 die Mitgliederzahl der sozialistischen Partei, ebenso die Zahl der Abgeordneten in ihren Reichstagsfraktionen (D37, B21, B22, B23). Während sozialdemokratische Kandidaten in den Reichstagwahlen von 1874 nur etwa 350.000 Stimmen erhalten hatten, waren für die Partei im Februar 1890 1,4 Millionen Wahlzettel abgegeben worden – nahezu 20 Prozent der direkten Stimmen (D38, B25). Dieser überwältigende Sieg trug zur Entscheidung Kaiser Wilhelms II. bei, einen Monat später Bismarck zu entlassen und nahm das noch drastischere Anwachsen der Partei in den 1890er Jahren vorweg.

Parteiprogramme und -organisationen. Das allgemeine Männerwahlrecht wurde 1867 eingeführt, zunächst für die Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes und dann, im Jahr 1871, für das neue Reich. In diesen Jahren nahm die parteipolitische Landschaft in Deutschland Strukturen an, die bis 1918 und darüber hinaus fortbestanden. Die Historiker sind sich uneinig, ob die wichtigsten politischen Parteien stabile sozialmoralische „Milieus“ repräsentierten, wie dies von M. Rainer Lepsius postuliert wurde. Die Milieutheorie ist nicht in der Lage, dem dynamischen Wesen und den Möglichkeiten wechselnder Bündnisse innerhalb des politischen Systems des Deutschen Kaiserreichs Rechnung zu tragen. Doch die Beständigkeit der großen Parteigruppierungen und ihrer ursprünglichen Parteiplattformen deutet darauf hin, dass die Entstehung der modernen Massenpolitik am ehesten in der Bismarckzeit, nicht in der wilhelminischen Ära zu verorten ist. Es war 1866-67, dass sowohl die konservative (D17, D18, D19) wie auch liberale Bewegung (D21, D22) sich spalteten. Auch die Sozialdemokraten organisierten sich in dieser Zeit, erst auf der regionalen und dann auf der nationalen Ebene (D24, D25). Anfang der 1870er Jahre festige sich die katholische Zentrumspartei als Reaktion auf den Kulturkampf (D20), und 1875 schmiedeten die marxistischen und Lassalleschen Flügel der Sozialdemokratie eine fragile Einheit auf Grundlage des Gothaer Programms (D26, D27, D28). In den 1880er Jahren kam es zur Spaltung, Wiedervereinigung und anderweitigen Reorganisation der alten linksliberalen und neuer antisemitischer Parteien (D23, D29).


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