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6. Militär und internationale Beziehungen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Kolonialismus. Das kurze Aufwirbeln von Kolonialbestrebungen in Deutschland Mitte der 1880er Jahre stellte die einzige bedeutende Abweichung von Bismarcks Politik der Bewahrung des Status quo in der Außenpolitik nach 1871 dar. Deutschlands Position in Europa zu stärken und es von den potenziellen Erschütterungen durch das internationale Bündnissystem zu „isolieren“, das blieben Bismarcks vorrangige Ziele – dort lag, wie er es einmal formulierte, die Karte Afrikas (B12). Einige Deutsche waren anderer Meinung, darunter Friedrich Fabri, Direktor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen. Fabri war davon überzeugt, dass sein Pamphlet aus dem Jahr 1879, Bedarf Deutschland der Kolonien? (D18) maßgeblich dazu beitrug, die lautstarken öffentlichen Forderungen nach Kolonien zu entfesseln. Welchen Wert diese Behauptung auch haben mag, in jedem Fall erlebten die 1880er Jahre ein Anwachsen weithin vernehmbarer kolonialer Interessengruppen und die Reorganisation oder Erweiterung einiger älterer Gesellschaften, die für Auswanderung, Entdeckungsreisen oder Exporthandel eintraten (D20, D21). Fabris Pamphlet und die Agitation dieser Vereine fingen die Stimmung der Deutschen ein, die sich darum sorgten, wie man die Wirtschaft neu beleben, ein Sicherheitsventil für die (empfundene) Überbevölkerung durch Auswanderung schaffen sowie Rohstoffe und Märkte für die deutsche Industrie sichern könnte.

Zwischen 1884 und 1886 folgten den Worten auch Taten, zunächst durch den verwegenen Anspruch, den der Abenteurer Carl Peters (D23) auf Südwestafrika (das heutige Namibia) erhob, und in der Folge durch die Gründung der deutschen Protektorate Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika (Tansania) sowie einer Reihe von Inseln im Südpazifik (B14). Historiker diskutieren weiterhin über die Gründe, weshalb Bismarck dieser kolonialen Inbesitznahme von Territorium zustimmte, da er zuvor nicht gewillt gewesen war, koloniale Erwerbungen in Betracht zu ziehen. Der Kanzler hat womöglich versucht, die kolonialen Besitzungen als Figuren in seiner Schachpartie der internationalen Diplomatie zu benutzen. Er war nicht abgeneigt, Spannungen mit Großbritannien zu schüren (B13), um den Einfluss des Kronprinzen Friedrich und seiner englischen Frau, der Tochter Queen Victorias, zu untergraben. Zumindest für kurze Zeit erkannte er zudem die Breitenwirkung der Kolonien bei Wahlen an. Sein kurzes, zögerndes Aufspringen auf den kolonialen Zug wurde unterstützt von Mitgliedern der rechtsgerichteten Nationalliberalen und Freikonservativen Parteien, deren Kandidaten 1884 einige der Mandate zurückgewannen, die sie in den Reichstagswahlen 1881 an die Linksliberalen verloren hatten. Keine dieser Erklärungen ergibt allerdings Sinn, wenn man nicht den Gedanken aufgibt, Bismarck habe die Kolonialbewegung heraufbeschworen, um seinen machiavellistischen Plänen zu dienen. Stattdessen sollte man klar erkennen, dass die Kolonialbewegung in den 1880er Jahren tatsächlich bei einem bedeutenden Teil des deutschen Bürgertums einen starken Ausdruck nationalistischer Stimmungen darstellte.


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