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5. Politik I: Reichsgründung
Druckfassung

Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Die Schaffung eines Verfassungsstaates: Das Streben nach Einheit und Freiheit. Siege auf dem Schlachtfeld und Hochrufe auf den Kaiser reichten nicht aus, um einen funktionierenden Verfassungsstaat zu schaffen. Dieselbe Art von politischen Verhandlungen, die zur Kaiserproklamation führte, setzte sich auch anschließend fort – im Parlament, in der Presse, im langwierigen Prozess der Kodifizierung von Gesetzen und in den kritischen Überlegungen der Liberalen, die noch immer hofften, dass die nationale Einheit größere bürgerliche und konstitutionelle Freiheiten fördern würde (D25, D26). Beginnend mit der leidenschaftlichen Verteidigungsschrift für den deutschen Föderalismus aus der Feder eines württembergischen Demokraten Mitte der 1860er Jahre – und dann Mitte der 1890er auf subtile Weise aktualisiert (D12) – zeigen die Dokumente in diesem Abschnitt, wie Bismarck und die Liberalen auf einer breiten Basis wirtschaftlicher, rechtlicher und konstitutioneller Reformen zu Gemeinsamkeiten fanden. Die besonders fruchtbaren Gesetzgebungsperioden von 1866-67 und 1871-74 werden hervorgehoben (D14 durchgehend bis D24, B37, B38, B39). Die Leser werden dazu ermutigt, abzuwägen, wo die Betonung liegen sollte, wenn das gesetzgeberische Programm als „Reformkonservatismus“ beschrieben wird – auf Reform oder auf Konservatismus? Dasselbe trifft auf den Begriff „konstitutionelle Monarchie“ zu, der sich anhand von Reichstagsdebatten und der Ikonographie beurteilen lässt (D16, B37), sowie auf „Bundesstaat“, der auf eine Zentralgewalt hindeuten sollte, die nun beim kaiserlichen Staat (im Singular) lag und nicht bei einem Staatenbund, wie er bis 1866 bestanden hatte.

Abwendung vom Liberalismus? Die Betrachtungen der deutschen Linken, herangezogen sowohl aus dem sozialistischen als auch dem liberalen Lager, erhellen die möglichen Marschrichtungen, die für laufende Verfassungsreformen in den 1870er Jahren offen lagen, selbst unter Bismarcks zunehmend autokratischem Regierungsstil (D25, D26, D27, D28, D29, D30). Die Liberalen waren nun in einen linksliberalen und einen nationalliberalen Flügel gespalten, aber ihre zahlreichen Leistungen in diesen Jahren sind nicht von der Hand zu weisen. Ab 1874 lässt sich jedoch eine schrittweise Verengung der Möglichkeiten ausmachen, den Traum eines liberalen Verfassungsstaates mit parlamentarischer Kontrolle über die Exekutivgewalt zu verwirklichen (D31, D32). Bis zur Mitte der 1880er Jahre sah es ganz so aus, als ließe die liberale Uneinigkeit, die wahrgenommene Bedrohung durch den Sozialismus und Bismarcks unanfechtbarer Aufstieg im preußischen Staatsministerium wenig Hoffnung für die Zukunft aufkommen (D33). Eine Zeit lang schien es möglich, dass die bevorstehende Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. Bismarcks Allmacht in der Innenpolitik brechen und die liberalen Geschicke wiederbeleben könnte. Immer mehr Deutsche waren zu der Überzeugung gekommen, dass Bismarck nicht nur, wie Theodor Fontane und andere behaupteten, „ein Despot“, sondern darüber hinaus auch entbehrlich sei (D34, D35). Doch die Oppositionsparteien im Reichstag waren nicht in der Lage, eine gegen Bismarck gerichtete Koalition zu bilden. Das Eindringen von Reichsinstitutionen – und der Idee des Reichs – in die dynastischen Staaten schuf einen weiteren Impetus für die Machtbündelung im Amt des Reichskanzlers und im Symbol des Kaisertums (B40, B41)). Als bekannt wurde, dass Friedrich unheilbar an Kehlkopfkrebs erkrankt war, noch bevor er den Thron bestiegen hatte, und als seine Regierung 1888 nur 99 Tage dauerte, realisierten die Liberalen, dass sein Sohn Kaiser Wilhelm II. wohl kaum eine Rückkehr zu einer „liberalen Ära“ unterstützen würde (D36, D37, B45, B46).


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