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Thomas Mann, „Betrachtungen eines Unpolitischen” (1918)

Thomas Mann (1875-1955) verfasste während des Ersten Weltkriegs den Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Als Erwiderung auf die Kritik seines Bruders an Deutschland und am Krieg rechtfertigte Manns Aufsatz den Autoritarismus und die innere „Kultur“ Deutschlands gegen die moralistische „Zivilisation“ und Demokratie Englands und Frankreichs. Mann widerrief später die Ansichten, die er in der 1918 erschienenen Schrift vertreten hatte.

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Als Demokratie also, als politische Aufklärung und Glücks-Philanthropie trat mir das Neue Pathos entgegen. Die Politisierung jedes Ethos begriff ich als sein Betreiben; in der Leugnung und Schmähung jedes nicht-politischen Ethos bestand - ich erfuhr es am eigenen Leibe - seine Agressivität und doktrinäre Intoleranz. Die ›Menschheit‹ als humanitärer Internationalismus; ›Vernunft‹ und ›Tugend‹ als die radikale Republik; der Geist als ein Ding zwischen Jakobinerklub und Großorient; die Kunst als Gesellschaftsliteratur und bösartig schmelzende Rhetorik im Dienste sozialer ›Wünschbarkeit‹: da haben wir das Neue Pathos in seiner politischen Reinkultur, wie ich es in der Nähe sah. Ich gebe zu, es ist eine besondere, extrem romantisierende Form davon. Mein Schicksal aber war es nun einmal, es so zu erleben; und dann, wie ich schon sagte, es ist immer und jeden Augenblick im Begriff, diese Form anzunehmen: ›Tätiger Geist‹, das heißt: ein Geist, der zugunsten aufklärerischer Weltbefreiung, Weltbesserung, Weltbeglückung tätig zu sein »entschlossen« ist, bleibt ›Politik‹ nicht lange im weiteren und übertragenen Sinn, er ist es sofort auch im engeren, eigentlichen. Und was für eine - um noch einmal einfältig zu fragen? Deutschfeindliche Politik, das liegt auf der Hand. Der politische Geist, widerdeutsch als Geist, ist mit logischer Notwendigkeit deutschfeindlich als Politik.

Wenn ich auf den folgenden Blättern die Meinung vertrat, daß Demokratie, daß Politik selbst dem deutschen Wesen fremd und giftig sei; wenn ich Deutschlands Berufenheit zur Politik bezweifelte oder bestritt, so geschah es nicht in der - persönlich und sachlich genommen - lächerlichen Absicht, meinem Volk den Willen zur Realität zu verleiden, es im Glauben an die Gerechtigkeit seiner Weltansprüche wankend zu machen. Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschriene ›Obrigkeitsstaat‹ die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Dieser Überzeugung Ausdruck zu geben, dazu gehört heute ein gewisser Mut. Trotzdem wird damit nicht nur nicht dem deutschen Volke irgendwelche Geringschätzung im geistigen oder sittlichen Sinne ausgedrückt - das Gegenteil ist die Meinung -, sondern auch sein Wille zur Macht und Erdengröße (welcher weniger ein Wille als ein Schicksal und eine Weltnotwendigkeit ist) bleibt dadurch in seiner Rechtmäßigkeit und seinen Aussichten völlig unangefochten. Es gibt höchst ›politische‹ Völker, - Völker, die aus der politischen An- und Aufgeregtheit überhaupt nicht herauskommen und die es dennoch, kraft eines völligen Mangels an Staats- und Machtfähigkeit, auf Erden nie zu etwas gebracht haben noch bringen werden. Ich nenne die Polen und Iren. Andererseits ist die Geschichte ein einziger Preis der organisatorischen und staatsbildenden Kräfte des grund-unpolitischen, des deutschen Volkes. Sieht man, wohin Frankreich von seinen Politikern gebracht worden ist, so hat man, wie mir scheint, den Beweis in Händen, daß es mit ›Politik‹ zuweilen durchaus nicht geht; was wiederum eine Art von Beweis dafür ist, daß es auch ohne ›Politik‹ am Ende gehen möchte. Wenn also meinesgleichen den politischen Geist für einen in Deutschland landfremden und unmöglichen Geist erklärt, so sollte ein Mißverständnis nicht aufkommen können. Wogegen das Tiefste in mir, mein nationaler Instinkt sich erbittern mußte, war der Schrei nach ›Politik‹ in der Bedeutung des Wortes, die ihm in geistiger Sphäre gebührt: Es ist die ›Politisierung des Geistes‹, die Umfälschung des Geist-Begriffes in den der besserischen Aufklärung, der revolutionären Philanthropie, was wie Gift und Operment auf mich wirkt; und ich weiß, daß dieser mein Abscheu und Protest nichts unbedeutend Persönliches und zeitlich Bestimmtes ist, sondern daß in ihm das nationale Wesen selbst aus mir wirkt. Geist ist nicht Politik: man braucht, als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses »nicht« einzustehen. Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur. Der Unterschied von Geist und Politik ist, zum weiteren Beispiel, der von kosmopolitisch und international. Jener Begriff entstammt der kulturellen Sphäre und ist deutsch; dieser entstammt der Sphäre der Zivilisation und Demokratie und ist - etwas ganz anderes. International ist der demokratische Bourgeois, möge er überall auch noch so national sich drapieren; der Bürger - auch das ist ein Motiv dieses Buches - ist kosmopolitisch, denn er ist deutsch, deutscher als Fürsten und ›Volk‹: dieser Mensch der geographischen, sozialen und seelischen ›Mitte‹ war immer und bleibt der Träger deutscher Geistigkeit, Menschlichkeit und Anti-Politik [. . .]



Quelle: Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Frankfurt, 1983, S. 29-31.

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