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Aufruf der westfälischen Agrarier (Sezessionisten) (1893)

Die konfessionellen Trennlinien zwischen Katholiken und Protestanten hinterließen ihre Spuren auch im politischen Bereich. Wahlen erlaubten es den Katholiken im Wilhelminischen Deutschland, ihrem Widerstand gegen den Kulturkampf Ausdruck zu verleihen, durch den Otto von Bismarck und seine parlamentarischen Verbündeten offen katholische Einrichtungen und Glaubenspraktiken angriffen. Dieser Konflikt bewirkte den Aufstieg des Zentrums, einer katholischen politischen Partei. Das Zentrum warb um die Unterstützung der agrarischen Wählerschichten, die in den frühen 1890er Jahren den wirtschaftlichen Konkurrenzdruck durch ausländische Getreideimporte zu spüren bekamen. Schutzzölle für landwirtschaftliche Erzeugnisse gehörten zu den Strategien, mit denen die Parteien die wirtschaftlichen Interessen der Landbewohner zu befriedigen versuchten.

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An unsere Mitbürger!

Der deutsche Reichstag ist aufgelöst, am 15. Juni finden die Neuwahlen statt. Schon lange lastet auf der heimathlichen Landwirthschaft, insbesondere auf dem Bauernstande, aber auch auf den Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden, mit welchen wir uns solidarisch fühlen, ein schwerer Druck, und es geht durch ihre Kreise eine Bewegung, welche in den letzten Monaten mit elementarer Gewalt hervorbrach um Abhülfe zu schaffen.

Die Handelsverträge mit ihrer Ermäßigung der Schutzzölle haben die Landwirthschaft geschädigt, der Industrie wenig genutzt. Der Preisrückgang, unter dem wir bis zur Herabdrückung unter die eigenen Produktionskosten leiden, wird durch die aufrechterhaltenen Staffeltarife für den billigen Getreidetransport vom Osten nach dem Westen verschärft, und verpflichtend, wenn noch ein Handelsvertrag mit Russland und Zollermäßigung an dessen Grenzen hinzukäme.

Der aufgelöste Reichstag hat den berechtigten, auch noch auf andere Gebiete sich erstreckenden Wünschen und Interessen der Landwirthschaft nicht genügend Rechnung getragen; es fehlte namentlich uns Westfälischen Landwirthen eine nach Zahl und Wirksamkeit genügende Vertretung in demselben. Die bevorstehende Neuwahl legt uns die Pflicht auf und giebt uns das Recht, Abhülfe zu fordern und, soweit es an uns liegt, solche zu schaffen.

Wir haben uns bis da von der Bildung einer eigenen Partei zur Erreichung dieser Ziele ferngehalten in dem Vertrauen, daß innerhalb der bestehenden Parteien, insbesondere auch der Centrumspartei unsere berechtigten Wünsche und Forderungen Berücksichtigung finden würden. Wir haben daher in der Versammlung der Vertrauensmänner der Centrumspartei für Westfalen zu Münster am 24. Mai unsere Klagen und Wünsche vorgetragen, und namentlich Garantien verlangt für angemessene Vertretung der vorwiegend landwirthschaftlichen Wahlkreise. Es genügt, für die Berechtigung unseres Verlangens darauf hinzuweisen, daß von den 9 Reichtagswahlkreisen Westfalens, welche Centrumsabgeordnete wählten, nur 2, von den 4 Reichstagswahlkreisen des Münsterlandes, trotz überwiegender landwirthschaftlicher Bevölkerung, keiner durch einen Landwirth im letzten Reichstage vertreten waren, während früher von den 9 Wahlkreisen 7 bzw. 8 einen Berufslandwirth als Vertreter hatten.

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