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Armut unter der älteren Landbevölkerung (1906)

Obwohl der Staat seinen Bürgern ein Mindestmaß an sozialer Absicherung garantierte, lag die Verantwortung für die Armen, Mittellosen und Bettler oft in den Händen der lokalen Kommunen. Hier spaltet ein Konflikt über die Frage nach dem Anspruch einer verarmten Familie auf öffentliche Unterstützung lokale Verantwortliche, Staat und ortsansässige Bürger.

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Der Ortsarme Specht in Kunzendorf bei Marienburg, der mit seiner Frau und Tochter im Armenhause wohnt und monatlich 10,55 Mk. Invalidenrente bezieht, ist wiederholt um Unterstützungen eingekommen, leider ohne Erfolg. Die Elbinger Parteigenossen nahmen sich schließlich der armen Familie an und erhoben Beschwerde gegen den Ortsarmenverband beim Kreisausschuß und über diesen schließlich beim Regierungspräsidenten in Danzig. Vom Regierungspräsidenten ist folgender Bescheid eingegangen:


Der Regierungspräsident.
Eingangs-Nr. A. 3873.

Danzig, den 19. August 1906.

Nach den angestellten Ermittelungen sind Sie noch nicht so hinfällig, wie Sie sich den Anschein geben. Sie haben im vergangenen Sommer eine Reise nach Westfalen zum Besuch Ihrer Kinder unternommen und die damit verbundenen Strapazen gut überstanden. Ihre Frau ist auch noch recht rüstig und imstande, einen Durchschnittsverdienst von täglich 50 Pf. zu erzielen.

Sie selbst können, wenn Sie wollen, dasselbe verdienen, da gegenwärtig ganzinvalide Bewohner des Armenhauses noch pro Tag 70 Pf. verdienen.

Mit der Rente von 10,55 Mk., dem Arbeitsverdienste und mit der Unterstützung der Gemeinde durch freie Wohnung und Brennung, sowie etwas Gartenland können Sie mit Ihrer Frau sehr wohl auskommen, zumal Sie bei dem auf dem Lande herrschenden Arbeitermangel leicht passende Arbeit finden können.

Bei Ihnen hält sich jedoch noch, und zwar mit Ihrem Einverständnis, Ihre arbeitsscheue erwachsene Tochter Christine auf, welche nach Ausspruch von sieben Aerzten gesund ist, nur simuliert, unberechtigt im Armenhause wohnt und von Ihnen mit ernährt wird. Sollte dieselbe nunmehr nicht irgend welcher Arbeit nachgehen, werde ich darauf hinwirken, daß sie einem Arbeitshause zugeführt wird.

Ferner sind Sie nicht, wie Sie in Ihrer Beschwerde angeben, 68, sondern erst 63 Jahre alt und Ihre Ehefrau nicht 65, sondern 63 Jahre alt. Ihre Beschwerde gegen den Herrn Landrat, Amtsvorsteher und Gemeindevorsteher weise ich aus den vorstehend angeführten Gründen als unberechtigt hiermit zurück.

v. Krotzky.

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