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Kurt Karl Doberer, „Der Pfennig war das Mark der Währung” (Rückblick)

Kurt Karl Doberers Kindheitserinnerungen schildern den Lebensalltag einer Familie aus den unteren Mittelschichten, die fest im sozialdemokratischen Milieu verwurzelt war und hart daran arbeitete, die eigene Lebenssituation zu verbessern. Der Bericht macht deutlich, dass sich der Stadtbevölkerung wachsende Bildungsmöglichkeiten eröffneten, und bezeugt zudem die hochgradige Komplexität des industriellen Arbeitslebens und der technologischen Entwicklungen.

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Meine frühesten Erinnerungen stammen aus der Zeit, als ich fünf Jahre alt war, es dürfte also um das Jahr 1909 gewesen sein. Wir wohnten in der Schweinauer Straße, die parallel zur eigentlichen Verkehrsader aus Nürnberg heraus von Sankt Leonhard nach Schweinau führte.

Auf ihr konnten sich die Hochradfahrer produzieren. Es war die Gelegenheit, wo ich so ein ausgefallenes Fahrzeug wahrscheinlich zum ersten- und letztenmal sah. Aber auch die gewöhnlichen Fahrräder wurden von der Stadtverwaltung noch mit großem Mißtrauen betrachtet. Man mußte einen richtigen Führerschein haben. Der wurde allerdings gegen Entrichtung der Gebühr ohne Fahrprüfung ausgestellt. Darin war auch die Nummer des Fahrrades aufgeführt. Mein Vater besaß einen solchen Führerschein für sein Fahrrad, dessen Nummer wie beim Auto, aus Blech gestanzt, an prominenter Stelle vorn und hinten angebracht und für die Polizei leicht leserlich sein mußte. Ob Autos zu dieser Zeit auch solche Nummern führen mußten, kann ich nicht sagen, denn ich kann mich nur an ein einziges Auto erinnern, das sich einmal in unsere Straße verirrt hatte.

Verkehr wurde in der Schweinauer Straße ausschließlich durch Pferdefuhrwerke dargestellt – in Form von Lieferwagen, Müllfahrzeugen, die die kleinen Kehrichtkübel entleerten, und im Sommer durch den Sprengwagen. Besonders der Sprengwagen sorgte für das Vergnügen der Kinder. Die Hosen hochgekrempelt, die Röcke geschürzt, so liefen wir hinterher, um uns vom ausströmenden Wasser die nackten Beine und manchmal auch ein bißchen mehr besprühen zu lassen.

Bei dieser Gelegenheit hatte ich auch mein erstes Liebesabenteuer. Ein Mädchen, das auf der anderen Straßenseite wohnte, nahm mich nach Hause mit. Im langen Gang, den die Wohnung hatte, hatten die Eltern eine Schaukel an die Decke geschraubt, und da schaukelten wir und schaukelten.

Mein Vater war Sozialist und Kassierer beim Sanitätsverein. In den Angestelltenstatus war er dadurch geraten, daß er bei der Firma Schuckert entlassen worden war, weil er hartnäckig den 1. Mai als Feiertag betrachtet hatte.

Er war Funktionär bei der Partei, hatte einen vollen Bücherschrank und arbeitete im Heine-Club an seiner Fortbildung. Er lernte Geschichte und Englisch. Das letztere lernte die ganze Familie mit. Ich weiß noch genau, wie meine Mutter zu mir sagte: »Drink good milk«, so einfach war diese Sprache.

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