GHDI logo


Elisabeth Flitner, „Auf dem Katheder brannte frühmorgens eine Kerze” (Rückblick)

Elisabeth Flitners Kindheitserinnerungen beschreiben die Welt einer bodenständigen deutschen Familie aus der gehobenen Mittelschicht um die Jahrhundertwende. Das beziehungsreiche Geflecht der Großfamilie bestimmte den häuslichen Alltag. Die Erzählung vermittelt darüber hinaus einen Eindruck vom Wirtschaftsleben der Bäcker, Metzger und Hausangestellten, welche die Familie ebenso umgaben wie die kirchlichen, schulischen und staatlichen Einrichtungen.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 4


Kindheit und Jugend habe ich als fünftes von acht Geschwistern in meinem Elternhaus in Jena verbracht. Es wurde von meinen Eltern nach meiner Geburt gebaut, weil ihnen die bei ihrer Heirat bezogene Wohnung der »unzumutbaren« Kinderzahl wegen gekündigt worden war.

Das Haus hatte große helle Räume und nach dem modernsten Stand damaliger Technik Zentralheizung, Gas für Herd, Badeofen und Beleuchtung, fließend Kaltwasser in Küche, Bad und Flur, im Winter Doppelfenster mit zauberhaften Eisblumen und einen handbetriebenen Aufzug von der Küche zu den Schlafzimmern im oberen Stock, der besonders bei Krankheiten von großem Nutzen war.

Wir Kinder hatten keine Einzelzimmer, sondern schliefen zu zweit oder zu dritt miteinander, die jeweils jüngsten im großen Kinderzimmer. An dessen Decke war ein blauer Himmel gemalt mit Schwalben, Rotkehlchen und Zaunkönigen, unter denen jeder von uns seinen Liebling hatte.

In meiner frühen Kindheit war ich nie allein; immer waren viele Menschen um mich herum, Verwandte und Fremde. An Sonntagen waren wir am ausgezogenen Eßtisch stets zwölf bis vierzehn Personen. Öffentlichkeit und Gesellschaft ereigneten sich für uns in Küche und »Wirtschaftszimmer«.

Täglich kamen der Milchmann mit seinen scheppernden Kannen, der Bäckerjunge im weißen Kittel mit Broten (die Semmeln hatte er schon in aller Frühe an die Gartentür gehängt), der kräftige Metzgerbursche mit einem großen hölzernen Trog auf der Schulter, aus dem er jedem Haushalt das bestellte Stück Fleisch zuteilte. Jede Woche erschien die Hühnerfrau; sie nannte uns »mein Täubchen«, wahrscheinlich kannte sie keine anderen Lebewesen als Geflügel. Die Büglerin hantierte mit einem eisernen, abwechselnd am Handgriff zu befestigenden heißen Bolzen oder mit einem großen Instrument, das durch Holzkohle geheizt wurde.

Es kam eine Näherin, um die Leib- und Hauswäsche auszubessern, und die Schneiderin; unsere sämtlichen Kleider und Anzüge wurden im Hause angefertigt. Wenn der Schornsteinfeger kam, versäumte er nie, uns im Gesicht anzuschwärzen. Der »Leitermann«, der aus dem Gebirge Holzlöffel und Schemel brachte, schnitzte auf unsere Bitte hin aus der Spitze des Tannenbaums einen Quirl.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite