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Die „Feudalisierung des Bürgertums”? Teil I: Mark Twain, Bummel durch Europa [A Tramp Abroad] (1880)

Mark Twains (1835-1910) Beschreibung eines studentischen Duells belegt eine Entwicklung, die Historiker oft als „Feudalisierung des Bürgertums“ bezeichnet haben. Dahinter steht die These, dass die gesellschaftlich nach oben hin mobilen Mittelschichten die archaischen Traditionen des Adels übernahmen, um gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die studentischen Corps, den Studentenverbindungen in den Vereinigten Staaten vergleichbar, genossen einst im universitären Leben Deutschlands eine privilegierte Stellung. Diese Verbindungen bildeten innerhalb einer geschlossenen Gemeinschaft von Ehemaligen häufig dichte Netzwerke. Als breitere Schichten Zugang zu höherer Bildung erhielten, gründeten bürgerliche Studenten ihre eigenen Organisationen, wobei sie ihre adeligen Vorgänger zum Vorbild nahmen.

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Kapitel 5. Auf dem Paukboden

An einem Tag erhielt mein Reisebegleiter im Interesse der Wissenschaft die Erlaubnis, mich auf den Paukboden der Studenten zu führen. Wir überquerten den Fluß und fuhren ein paar hundert Meter am Ufer entlang, bogen dann nach links in eine schmale Gasse ein, folgten ihr etwa hundert Meter und kamen vor einem zweistöckigen Wirtshaus an; das Äußere war uns vertraut, denn es war vom Hotel aus zu sehen. Wir gingen nach oben und gelangten in einen großen weißgetünchten Saal, der etwa fünfzehn Meter lang und zehn Meter breit und sechs oder auch sieben Meter hoch war. Der Saal hatte gutes Licht. Einen Teppich gab es nicht. An einem Ende und an den beiden Längsseiten waren Tische aufgereiht, und daran saßen etwa fünfzig bis fünfundsiebzig Studenten.

Einige von ihnen tranken Wein, andere spielten Karten, andere Schach, noch andere plauderten miteinander, und viele rauchten Zigaretten, während sie auf die kommenden Duelle warteten. Fast alle trugen bunte Mützen. Ich sah weiße Mützen, grüne Mützen, blaue Mützen, rote Mützen und leuchtend gelbe; alle Korps waren also mit starker Streitmacht vertreten. In den Fensternischen am freien Ende des Raumes standen sechs oder acht lange schmalklingige Säbel mit großem Handschutz, und draußen war ein Mann dabei, weitere auf einem Schleifstein zu schärfen. Er verstand sein Handwerk; wenn ein Säbel seine Hände verließ, konnte man sich damit rasieren.

Es war zu beobachten, daß die jungen Herren nicht mit Studenten sprachen, deren Mütze sich in der Farbe von ihrer eigenen unterschied, ja, sie nicht einmal durch eine Verbeugung begrüßten. Das war keine Feindseligkeit, sondern nur bewaffnete Neutralität. Man war der Ansicht, daß jemand im Duell härter und mit ernsterem Interesse schlug, wenn er zu seinem Gegner nie ein kameradschaftliches Verhältnis unterhalten hatte. Kameradschaft zwischen den Korps war daher nicht erlaubt. Von Zeit zu Zeit pflegen die Vorsitzenden der fünf Korps kühlen offiziellen Umgang miteinander, aber damit ist es auch getan. Wenn zum Beispiel der regelmäßige Duelltag eines Korps näherrückt, bittet der Vorsitzende um die Meldung von Freiwilligen, die sich schlagen werden; drei oder mehr melden sich – aber weniger als drei dürfen es nicht sein; der Vorsitzende legt ihre Namen den anderen Vorsitzenden mit dem Ansinnen vor, für diese Herausforderer Gegner aus dem eigenen Korps zu stellen. Dem wird unverzüglich nachgekommen. Es traf sich, daß das Ereignis, dem ich beiwohnte, der Kampftag des Rotmützenkorps war. Sie waren die Herausforderer, und bestimmte Mützen anderer Farben hatten sich freiwillig erboten, gegen sie anzutreten. Die Studenten fechten während siebeneinhalb bis acht Monaten im Jahr zweimal wöchentlich Duelle in dem Saal aus, den ich beschrieben habe. Der Brauch besteht in Deutschland seit zweihundertfünfzig Jahren.

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