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Theodor Barth über die Notwendigkeit einer linksliberalen Opposition zu Bismarck (26. Juni 1886)

Um die Mitte der 1880er Jahre fühlten sich viele deutsche Liberale von Bismarcks autokratischer Politik betrogen. Sie kritisierten den Kanzler, weil er die „staatserhaltenden“ Parteien wie Postpferde ritt, wobei er jede einzelne bis zur Erschöpfung trieb, um dann zu einer anderen zu wechseln. Im Juni 1886 brachte Theodor Barth (1849-1909) diesen Standpunkt zum Ausdruck, während er gleichzeitig entschlossenere Opposition gegenüber Bismarck forderte. In diesem Dokument kritisiert Barth die Abkehr des Kanzlers von Freihandel, Gewerbefreiheit und Meinungsfreiheit sowie seine Bemühungen, den Kulturkampf gegen die katholische Kirche zurückzuschrauben. Abgesehen vom Kontrast zu Julius Jollys Analyse des notwendigen beiderseitigen Entgegenkommens zwischen Regierung und Parteien aus dem Jahr 1880, spiegeln Barths Ausführungen die linksliberalen Hoffnungen wider, dass auf das bismarcksche Regiment bald die liberalere Regierung des Kronprinzen Friedrich folgen würde (der allerdings 1888, nach nur 99 Tagen auf dem Thron, starb).

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Es sind gerade zwei Dezennien vergangen, seit auf den böhmischen Schlachtfeldern die endgültige Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich eintrat, in deren Verfolg zunächst der Norddeutsche Bund und dann das Deutsche Reich gegründet wurden. In beiden Jahrzehnten hat derselbe Staatsmann die Politik Preußens und Deutschlands geleitet; es würde daher nur natürlich erscheinen, wenn diese Periode von denselben politischen Grundsätzen beherrscht worden wäre. Stattdessen ist, ungefähr genau in der Mitte des Zeitraums, ein Umschwung eingetreten, der die letzten zwei Jahrzehnte in den stärksten politischen Gegensatz zueinander gebracht hat. Nahezu in allem kommt dieser Gegensatz zum Ausdruck: in der Stimmung, deren patriotische Hoffnungsfreudigkeit in einen verdrossenen Pessimismus umgeschlagen ist, ebenso wie in der Parteigruppierung, welche heute die Deklaranten der Kreuzzeitung als eine Kerntruppe des Fürsten Bismarck zeigt, während die fleißigsten Mitarbeiter an der Gesetzgebung der ersten zehn Jahre sich zu einer immer nachdrücklicheren Opposition gezwungen sehen, und der Ultramontanismus, der Hauptfeind des ersten Dezenniums, dem Fürsten Bismarck die Bedingungen des bei der Kurie nachgesuchten Friedens vorschreibt. Beinahe in allen Zweigen der inneren Politik ist diese schroffe Wandlung eingetreten; der gemäßigte Freihandel hat einem krassen Protektionismus, der Individualismus dem Sozialismus, die freie Entwicklung mehr und mehr der Bevormundung Platz gemacht. Ausnahmegesetze, Massenausweisungen, die rücksichtsloseste Interessenpolitik, die Kapitulation vor dem Papste, die Wiederaufrichtung von Zunftschranken, der Kolonialschwindel und ähnliche Errungenschaften – das sind die charakteristischen Erscheinungen in der zweiten Hälfte eines Zeitabschnitts, dessen erste Hälfte die glänzenden Taten der Gründung des Deutschen Reichs und seines Aufbaues auf freien wirtschaftlichen und leidlich freien politischen Grundlagen aufweist.

Wer dem Fürsten Bismarck bei diesem fundamentalen Systemwechsel stets überzeugungstreu zur Seite geblieben ist, dessen Anpassungsfähigkeit wird jeder politischen Anforderung gewachsen sein. Aber es ist nicht verwunderlich, daß eine so vollendete Biegsamkeit – wenn man von denen absieht, die aus der Charakterlosigkeit ein Gewerbe machen – doch nur bei wenigen Politikern gefunden wird, und daß sich deshalb seit einigen Jahren ein allgemeines chassez-croisez abspielt, bei dem ganze Parteien bisher einen festen Platz noch nicht wiedergewonnen haben. Wir Freisinnigen haben denselben insofern gefunden, als wir in eine klare

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