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Eugen Richter über den deutschen Adel (1898)

Eugen Richter (1838-1906), ein liberaler Intellektueller, Schriftsteller und Politiker, kritisiert, dass ein Adelstitel in der deutschen Gesellschaft erhebliche Vorteile mit sich bringen konnte. Er fragt nach der Herkunft der Adeligen und untersucht ihren Beitrag zur deutschen Entwicklung im 19. Jahrhundert. Adelige genossen noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts spezifische Privilegien und einen gesonderten Status. Viele Regierungsposten blieben Männern ohne Titel verschlossen; Richter weist allerdings darauf hin, dass finanzielle Mittel auch hier Abhilfe schaffen konnten. Unter Historikern hat es eine kontroverse Debatte über die Frage gegeben, bis zu welchem Grad die mittleren Schichten der deutschen Gesellschaft ihre Aufstiegsmöglichkeiten nach oben nutzten, indem sie sich der adeligen Kultur mit ihren rückwärtsgewandten Einstellungen und Verhaltensweisen anpassten.

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Adel. [S.8] Niemand ist für seinen Namen verantwortlich, und man hat kein Recht, aus altadligen Namen auf Anmaßung und herrschsüchtiges Wesen seines Trägers zu schließen. Aber ebensowenig darf es geduldet werden, daß aus einem adligen Namen irgend ein Anspruch auf gesellschaftlichen Vorrang hergeleitet wird. Nur Mangel an Selbstbewußtsein der bürgerlichen Kreise, Charakterschwäche der Gesellschaft, Knechtsinn und Gedankenlosigkeit können es verschulden, wenn es auch in unserer Zeit möglich werden sollte, daß sich vorübergehend wieder eine Adelsherrschaft erhebt und breit zu machen sucht.

Jammervoll würde es um das Staatswesen bestellt sein, wenn edler Sinn und Opfermut in hervorragender Weise nur bei einer Anzahl von Geschlechtern mit adligen Namen vertreten wären. Tugenden vererben sich mitunter, aber ebenso auch Untugenden. Das gilt von adligen Geschlechtern ebenso wie von bürgerlichen. Gar oft aber kommen zu den angestammten Untugenden noch eigene persönliche gerade bei denjenigen hinzu, welche glauben, auf Verdienste und Vorzüge ihrer Voreltern pochen zu können. Die Verführung dazu ist um so stärker, wenn im Staatswesen oder in den Auffassungen der Gesellschaft irgend ein Vorrang eingeräumt wird demjenigen, welcher einen altadligen Namen führt. Solcher Name beweist vielfach nicht einmal für die Voreltern ein Verdienst um das Gemeinwesen, geschweige denn für die jetzigen Träger. Gar vornehme Namen von heute finden sich in früheren Jahrhunderten auf der Liste gewerbsmäßiger Straßenräuber und Wegelagerer. Von vielen weiß man bis in unsere Tage nicht, wie sie überhaupt zu einem adligen Namen gekommen sind. Die adligen Namen vererben sich durchweg unbeschränkt. Es giebt hochadlige Namen, die so zahlreich vertreten sind, daß sie nirgend fehlen auf Listen, wo Tausende von Namen zusammenkommen, mögen es nun Ranglisten oder Verbrecherverzeichnisse sein.

Jede Bevorzugung um des adligen Namens willen ist eine Zurücksetzung für andere, deren Wert in der eigenen Person beruht. In dem Maße, wie solche Bevorzugung sich verallgemeinert, muß das Gemeinwesen zurückgehen und verkommen. In den Jahren 1806 bis 1807 brach das in erster Reihe auf die adligen Generale gestützte preußische Staatswesen kläglich zusammen. Die preußischen Generale, welche in schmachvoller Weise die preußischen Festungen den Franzosen übergaben, waren samt und sonders vom Adel, teilweise aus altadligem Geschlecht, während der bürgerliche Nettelbeck sein Kolberg bis zum Friedensschluß mannhaft verteidigte. Auch die Helden des Befreiungskrieges waren zum größten Teil einfacher bürgerlicher Abkunft. Fürst Bismarck und Feldmarschall Moltke vermögen auch keine Ahnenprobe zu bestehen, denn beide haben bürgerliche Mütter.

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