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Treppen für „Herrschaften” und „Nichtherrschaften” (1903)

Dieser Textauszug zeigt, welche absurden Ausmaße die räumliche Trennung der oberen und unteren Gesellschaftsschichten im Wilhelminischen Deutschland annehmen konnte. Der Autor, ein Mitglied der „herrschaftlichen“ Schicht, verurteilt die gesellschaftliche Konvention, nur bestimmten Personen das Betreten eines Wohnhauses über die Vordertreppe zu gestatten – die Entscheidung über dieses Privileg hing wesentlich vom äußeren Erscheinungsbild und anderen sichtbaren Merkmalen ab.

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Nur für Herrschaften! ruft gewöhnlich dem Eintretenden ein Anschlag an der Vordertreppe unserer Häuser in Berlin W. zu. Es macht mich jedesmal verstimmt, wenn ich das lese. Es hat etwas Protziges und Aufreizendes an sich, und ich persönlich mache mir aus dem Titel „Herrschaft“ gar nichts. Aber in Berlin ist das Wort „herrschaftlich“ sehr beliebt; „herrschaftliche Wohnungen“ werden vorzugsweise solche genannt, die mit einem Schein von Vornehmheit ausgestattet sind, mit Marmor aus Stuck, mit Holzgetäfel aus Papier und anderer lieblicher Augenverblendung. Das stolze Wort „herrschaftlich“ genügt nicht einmal, man hat davon eine greuliche Steigerung „hochherrschaftlich“ gebildet, die in das Gebiet des groben Sprachunfugs fällt. Wie gesagt, ich mag das Wort „Herrschaft“ nicht, und ich sage mir: selbst wenn man einen gewissen Sinn damit verbindet, ist es im einzelnen Fall schwer zu entscheiden, wer zur Herrschaft gehört und wer nicht. Freilich brauchte ich mir deshalb keine Sorge zu machen, denn im Hause habe ich nicht darüber zu entscheiden, sondern der Portier, dessen Sache es ist, „Herrschaften“ vorn hinaufzulassen, Nichtherrschaften auf die Hintertreppe hinzuweisen. Aber trifft der Portier auch immer das Richtige? Ist er Menschenkenner genug, um zwischen „Herrschaften“ und solchen Personen, die es nicht sind, unterscheiden zu können? Nein, in den meisten Fällen ist er es nicht. Lediglich nach einigen äußeren Merkmalen richtet er sich und urteilt danach. Schnorrer und noch viel schlimmere Leute läßt er ruhig vorn hinaufspazieren, wenn sie nicht ganz zerlumpt sind und nichts in der Hand haben als einen Stock oder Regenschirm. Kommt aber einer, der ein Paket trägt oder sonst etwas, aus dem anzunehmen ist, daß er den „arbeitenden Klassen“ angehört, und will vorn hinauf, so stürzt der Portier sich auf ihn wie ein Berserker und schleift ihn nach der Hintertreppe. Man läßt manchmal einen Mann vorn hinaus aus Bequemlichkeit oder um es ihm leichter zu machen, wenn er etwas zu tragen hat, weil die Hintertreppe häufig steil ist, und man denkt, vielleicht sieht es der Portier nicht, aber er sieht es doch und wütend kommt er heraufgestürmt, um sich über Verletzung der Hausordnung zu beklagen. Wieviel Lärm und Unruhe entsteht dadurch im Hause! Man kam früher ohne so rigorose Bestimmungen in Bezug auf die Benutzung der beiden Treppen aus. Daß diejenigen, die in den hinteren Räumen der Wohnung zu tun haben, die Hintertreppe benutzen, ist ja selbstverständlich. Ein endloser Korridor pflegt in den neuen „herrschaftlichen“ Häusern von Berlin W. die Vorderräume, wo die „Herrschaft“ sich aufhält, von der Küche und dem hinteren Eingang zu trennen, was von hinten heraufkommt, entzieht sich fast gänzlich der Kontrolle der Hausfrau. Aus diesem Grunde hat alles, was mit dem Gesinde zu tun hat oder sich zu tun macht, schon von selbst ein großes Interesse daran, die Hintertreppe zu benutzen. Deshalb hat der Portier es gar nicht nötig, so sehr peinlich auf die Beobachtung der Treppenordnung zu halten. Er zeigt sich aber meistens überaus strenge darin. In einem Hause des Westens, in dem ich wohnte, wurden meine eigenen Kinder, wenn sie zum Bäcker geschickt waren und mit Brot zurückkehrten, vom Portier angehalten und von der Vordertreppe weggewiesen auf die Hintertreppen. Lieber Himmel, konnte irgend eine der im Hause wohnenden Parteien daran Anstoß nehmen, daß ihr auf der Treppe ein Kind mit einem Brote begegnete? Ein kleines Mädchen, das ein großes Brot – so groß die Bäcker in dieser teuern Zeit es backen – in den Händen trägt – ist, ich meine, etwas, das selbst ein Wirklicher Geheimer Rat freundlich anblicken kann, ohne sich dadurch zu erniedrigen. Da ich nun die Gewohnheit habe, selbst dieses und jenes auf Märkten einzukaufen und nach Hause zu tragen, so bin ich immer in großer Sorge, daß der Portier mir einmal die Vordertreppe verbieten wird.



Quelle: Johannes Trojan, Berliner Bilder: Hundert Momentaufnahmen. 2 Aufl., Berlin, 1903, S. 1-3.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg. Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 70-71.

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