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Landflucht (1900)

Dem explosionsartigen Wachstum der Städte entsprach eine rasante Entvölkerung der ländlichen Gebiete. Der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard führte dazu, dass viele Menschen das arbeitsreiche Leben eines Bauern hinter sich ließen. Der Autor dieses Textes mahnt eine Verbesserung der ländlichen Lebensbedingungen an, um die Verelendung des agrarischen Sektors zu verhindern. Nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land gab es Reformbewegungen, die den Lebensalltag der durchschnittlichen Deutschen verbessern wollten.

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Auch in der Stadt ist keine soziale Reform von Dauer möglich, wenn nicht in der Landwirtschaft gesunde Verhältnisse herrschen. Nach dem auch in der Volkswirtschaft geltenden Gesetze vom niederen Druck strömen die frei beweglichen Menschenmassen stets dorthin, wo sie die günstigsten Lebensbedingungen zu finden hoffen.

Jede einseitige Verbesserung der Lebenshaltung in der städtischen Bevölkerung müßte deshalb eine noch stärkere Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte herbeiführen. Das aber würde für die Masse ihrer Bewohner nichts anderes bedeuten, als eine erhöhte Nachfrage nach Wohnungen, d. h. Verteuerung des Bodens und Mietssteigerungen, die Entstehung oder Vergrößerung der „industriellen Reservearmee“, die jeden dauernden Aufstieg in der Lebenshaltung der großen Masse unserer Bevölkerung erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

Der vielfach behauptete Interessengegensatz zwischen Stadt und Land ist ungerechtfertigt. Das alte Bibelwort: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, kann in die moderne Volkswirtschaft übersetzt werden: „Du sollst deines Nächsten Stand lieben, wie du deinen eigenen Stand liebst.“ Nur wenn es allen erwerbenden Ständen gut geht, kann dauernde Besserung auch in dem eigenen erzielt und aufrecht erhalten werden. Nur wenn es unserer ländlichen Bevölkerung so gut geht, daß eine übermäßige Abwanderung in die Industrieorte nicht erfolgt, ist auch eine hohe Lebenshaltung der städtischen Bevölkerung und damit ein hochstehendes Wirtschaftsleben des ganzen Volkes möglich.

Dazu kommt die ganz besondere nationale Bedeutung einer gesunden Landbevölkerung. Sie ist der Jungbrunnen des Volkes. Noch heute leben in Deutschland rund 26 Millionen Menschen auf dem Lande, und daß hier Kraft und Zucht in höherem Maße vertreten sind als in dem lauten, aufreibenden Getriebe unserer Industrieorte, ist trotz vereinzelter Versuche niemals ernstlich bestritten worden.

Während in weiten Gebieten der Industrie die Schichten der wirtschaftlich Selbständigen abnehmen und sich immer mehr Riesenbetriebe in wenigen Händen vereinen, zeigt sich in der Landwirtschaft der Mittel- und Kleinbetrieb dem Großbetrieb nicht nur ebenbürtig, sondern in mancher Beziehung sogar überlegen. Die Entwicklungstendenzen in der Industrie finden also in denen der Landwirtschaft ein Gegengewicht, das vom nationalen und sozialen Standpunkt gleich bedeutsam erscheint, da es unserem Volke eine starke wirtschaftlich selbständige Mittelschicht sichert.

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