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Gustav Schmoller: Die soziale Frage und der Preußische Staat (1874)

„Die soziale Frage und der Preußische Staat“ (1874) wurde in einer renommierten zeitgenössischen Zeitschrift von Gustav Schmoller (1838-1917), Professor der Nationalökonomie und Mitbegründer des Vereins für Sozialpolitik, veröffentlicht. Als so genannter „Kathedersozialist“ verwies Schmoller auf die legitimen Forderungen der unterprivilegierten Arbeiter, obwohl er auch Mängel in der sozialdemokratischen Führung einräumte. Ganz ähnlich wie viele andere Sozialreformer Mitte der 1870er Jahre – von denen manche Bismarck und seine liberalen Berater heftig attackierten – kritisierte Schmoller die Börsenspekulanten der „Gründerzeit“ nach der Reichsgründung 1871. Allerdings behauptete er nicht, dass der bestehende Staat korrupt, dass industrieller Kapitalismus völlig funktionsunfähig oder dass Deutschland von Juden überlaufen sei, wie dies die radikaleren Kritiker taten. Stattdessen forderte er die aktive Beteiligung der Gesetzgeber, der Öffentlichkeit, der Monarchie und des preußischen Beamtentums an einem umfassenden sozialen Reformprogramm.

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[ . . . ] Die neue Zeit hat notleidende, verkümmerte, seit Jahrhunderten mißhandelte Klassen mit übernommen. Diese mußten, plötzlich sich selbst und dem Kampf der Konkurrenz überlassen, notwendig um so viel zurückbleiben als die besser Situierten, die Gebildeteren und Besitzenden schneller vorwärts kamen. Der kleine Gewerbebetrieb erlag dem großen. Die moderne Technik war nur dem großen Kapital zugänglich. Der ungeheure Aufschwung der Produktion, des Handels kam den verschiedenen Gesellschaftsklassen nicht gleichmäßig, er kam überwiegend nur einer bevorzugten Minderheit zugute. Bis vor einigen Jahren blieb der Lohn in Deutschland hinter der allgemeinen Preisbewegung in bedenklicher Weise zurück. Die Rückwirkung der Großindustrie auf die Wohnungs-, Bildungs-, Familienverhältnisse war ohnedies zunächst die vorherrschend ungünstige. Die Handelskrisen hatte der Arbeiterstand, zu Tausenden plötzlich entlassen, am empfindlichsten zu tragen. Derselbe Arbeiter, dem man täglich neue politische Rechte gab, den man von allen Seiten in die Arena des politischen Kampfes hereinrief, dem man täglich versicherte, er sei das eigentliche Volk – er sah sich bis vor nicht allzu langer Zeit zu einem großen Teil täglich in kümmerlicherer Lage. Es mußte unausbleiblich der Moment kommen, in dem er sich sagte: also im politischen Leben, im Dienste für das Vaterland, überall soll ich so viel gelten, als der Vornehmste, der Reichste, – aber im wirtschaftlichen und sozialen Leben, da soll nicht nur die Kluft fortdauern, da soll sie sich gar noch erweitern.

Aus diesen Prämissen ist die heutige soziale Frage erwachsen, mußte sie erwachsen. Ein soziales Klassenbewußtsein mußte mit dem Moment entstehen, in dem eine einzige Stimme nachdrücklich und deutlich daran erinnerte, daß der besitzlose Arbeiterstand andere Interessen habe, als der radikalste Teil des Unternehmerstandes. Die vornehme Abweisung aller Klagen des vierten Standes mit der Phrase, daß die neue Gesetzgebung alles, was möglich, für ihn getan, daß jeder, der jetzt nicht vorwärts komme, persönlich daran schuld sei, mußte um so rascher die Erbitterung steigern, je klarer ein bedenklicher Materialismus und ein engherziger Egoismus in den Kreisen der Besitzenden um sich griff, je deutlicher das Durchschnittsmaß von Skrupulosität in der Anwendung zweifelhafter Mittel zu schnellem Vermögenserwerb herabging. Das Rechtsgefühl der Masse verteidigt jede bestehende Eigentumsordnung, die derselben auch nur ganz ungefähr mit den Tugenden, den Kenntnissen und Leistungen der Einzelnen wie der verschiedenen Klassen im Einklang zu sein scheint. Umgekehrt ist aber jede Besitz- und Einkommensordnung, so viel deren die Welt schon gekannt, mit der Zeit gefallen, wenn sie nicht mehr auf diese Überzeugung sich stützen konnte. Der Nagel zum Sarg jeder bestehenden Eigentumsverteilung ist der um sich greifende Glaube, daß moralisch verwerfliche Erwerbsarten zu ungehindert sich breit machen, daß mehr der unehrliche als der ehrliche Erwerb die großen Vermögen schaffe, daß zwischen den verschiedenen Leistungen der Einzelnen und ihren wirtschaftlichen Resultaten – ihrem Einkommen eine zu große, zu ungerechte Disharmonie sei. [ . . . ]

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