GHDI logo


„Das ist wunderselten, daß ich ein Ei kriege!” Frühstück in einer Leipziger Arbeiterfamilie (Mitte der 1880er Jahre)

Arbeiterfamilien gaben einen weit größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aus als die Mittel- und Oberschicht. Dennoch war Unterernährung ein ernstes Problem. Aus diesem Bericht über eine fünfköpfige Familie in Sachsens zweitgrößter Stadt geht hervor, dass genauestens eingeteilte Kartoffel- und Schwarzbrotportionen die Hauptnahrung darstellten. Ein wässriger Aufguss aus Kaffee und Gerste galt als Genuss, Eier als seltene Köstlichkeit und Milch und Zucker zum Kaffee als Luxus. Trotzdem waren die Arbeiter bestrebt, beim Mittagsbrot mit ihren Kollegen in der Fabrik den Schein zu wahren; daher gehörte der Verzehr von Brot ohne Butter dort nicht zum guten Ton.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Die Frau erhebt sich um 4 oder 1/4 5 Uhr von dem später zu beschreibenden Nachtlager; mit ihr stehen zugleich die beiden größeren Kinder auf. Sie macht zunächst Feuer an, um das erste Frühstück zu bereiten, und kleidet sich an. Später weckt sie den kleinsten Jungen auf, um ihn zu waschen, zu kämmen und anzuziehen. Der Mann steht eine halbe Stunde später auf als die Frau. Zu den wichtigsten Morgengeschäften der Frau gehört es, für das Leben auf der Fabrik den Tag über den gemahlenen Kaffee, etwas Wurst und das nötige Brot einzupacken, das Hauptnahrungsmittel neben den Kartoffeln. Sie muß auch den Kindern das für den Tag bedurfte Brot abschneiden. Auf das Schwarzbrot, welches also nicht etwa dem Kaffeebrötchen der Reichen entspricht, sondern die Tagesnahrung außer Kartoffeln darstellt, gibt es Butter, bei den Kindern weiter nichts als Butter. Die Familie braucht wöchentlich 4 Brote zu je 8 Pfund im Preise von 88 Pfennigen, das heißt das Doppelte, wie begüterte Familien von gleicher Kopfzahl verzehren. Semmel oder Weißbrot wird wochentags nicht zum ersten Frühstück genossen, sondern Schwarzbrot, niemals gibt es zum Kaffee Zucker oder Milch. Vor dem Gange nach der Fabrik wird der Kaffee eingenommen. Der Kaffeegenuß kehrt täglich noch 3mal wieder. Das ist derjenige Genuß, welchen der wässerige Aufguß von wöchentlich 1/4 Pfund Kaffee zu 30 Pf. und 1 Liter Gerste zu 20 Pf. gewähren kann.

Der Mann verzehrt statt des Kaffees eine Mehlsuppe mit etwas Butter und einer Kleinigkeit Zucker; zuweilen, aber nicht oft, mit einem Ei. Derselbe sagte bei der Vernehmung zu seiner Frau: „Das ist wunderselten, daß ich ein Ei kriege!“ Die von der Familie verwendete Butter ist „Faßbutter“, das Pfund zu 1 Mark. Es werden davon wöchentlich 2 Pfund gebraucht. [ . . . ] Die Beschaffenheit [dieser] Butter im übrigen ist so, daß die Frau aussagt, sie äße oft wenig oder gar keine Butter zum Brot, nicht um zu sparen, sondern weil der Geschmack so unangenehm wäre. In der Fabrik müssen die Leute das Brot gestrichen essen, weil die Arbeiter gegenseitig ihre Lebenshaltung kritisieren. Zum ersten Frühstück wird Weißbrot nur sonntags gegessen (ohne Butter), für etwa 20, selten für 30 Pfennige.



Quelle: H. Mehner, „Der Haushalt und die Lebenshaltung einer Leipziger Arbeiterfamilie,“ in Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 11 (1887), S. 304-3.

Abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871-1914. Düsseldorf: Droste, 1982, S. 101-2.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite