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Erinnerungen eines Gymnasialschülers in Leipzig (um 1880)

Höhere Schulbildung der privilegierteren Mittel- und Oberschicht orientierte sich eher an den klassischen Sprachen (und Idealen) und weniger an praktischen und aktuellen Themen. Nach seiner Thronbesteigung 1888 versuchte Kaiser Wilhelm II. eine Neuorientierung hin zu einem stärker naturwissenschaftlichen, technischen und „deutschen“ Unterricht zu bewirken, doch er und seine Anhänger hatten einen harten Kampf auszufechten. Wie dieser Auszug aus den Erinnerungen eines Leipziger Gymnasialschülers zeigt, hatte man mit den Schülern lange Griechisch, Latein und alte Geschichte durchexerziert – das militärische Bild ist durchaus zutreffend – statt Deutsch oder Zeitgeschichte.

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Leipzig um 1880: Später kam endloses Latein, noch später sehr viel Griechisch. Deutsch und Turnen waren gleichgesetzte Nebenfächer. Jede Woche gab es davon zwei Stunden, nur in den höheren Klassen kam der deutsche Unterricht zu etwas besserem Recht. Ich machte viele lateinische Verse – über den Frieden, über den Krieg, über das Schwimmbad, über die Leier, über das Klavier – aber ich wußte nicht, ob und was für Dichter in Deutschland lebten, wenn ich es nicht aus den Büchern erriet die mein Vater meiner Mutter zum Lesen auf ihr Schreibpult legte. Ich vermochte den Flächeninhalt einer Ellipse zu errechnen, hatte aber keine annähernde Vorstellung von der Größe eines Quadratkilometers oder von dem Gehalt eines ordentlichen Professors an der Universität. Wir schrieben griechische Arbeiten in Übersetzung deutscher Vorlagen ohne Wörterbuch – was wirklich eine besondere Vergeudung des Griechischen und des Deutschen zugleich war da wir für solche Arbeiten gar nicht das Zeug hatten und keiner sie auch nur halbwegs fehlerfrei zustande brachte – und konnten im Grunde den Homer nicht lesen. Wir lernten aus dem bellum gallicum die Konstruktion der Brücke die Cäsar für seine Legionen über den Rhein schlagen ließ und wußten jede Strebe und jede Bindung zu benennen, aber wir wußten nicht, wie nach der Verfassung die Konstruktion des Deutschen Reiches aussah, was da band und was da trug. Wir kannten den zweiten messenischen Krieg besser als den zweiten schlesischen oder die Freiheitskriege, da der Geschichtsunterricht nicht bis zu diesen späten Ereignissen hin gedieh. Die geschichtlichen und politischen Grundlagen unseres Lebens blieben uns völlig unbekannt.

Dies alles war jedoch keineswegs die Schuld der Lehrer; es lag in der Zeit und ich kannte kein Gymnasium, wo es wesentlich anders gewesen wäre.



Quelle: Rudolf Binding, Erlebtes Leben, Potsdam, 1937, S. 75-76.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C.H. Beck, 1982, S. 330-31.

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