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Katholische Sicht der Wirtschaft: Auszüge aus Wilhelm Emmanuel von Kettelers „Die Arbeiterfrage und das Christenthum” (1864)

Der einflussreiche katholische Bischof und Vertreter christlich-sozialer Gedanken Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1897) verband konservative Kritik an der Gewerbefreiheit mit Elementen der sozialistischen Wirtschaftstheorie. Die freie Marktwirtschaft verschulde das Elend der Arbeiter, doch auch das alte Zunftwesen sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen forderte er die Schaffung von Produktivgenossenschaften und Wohlfahrtseinrichtungen für bedürftige Arbeiter sowie eine stärkere Besinnung auf christliche Werte.

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Von allen Seiten erheben sich Stimmen, die die Lage der Arbeiter besprechen und Vorschläge zur Verbesserung ihrer Verhältnisse machen. Es bestehen weitverbreitete Gesellschaften, die den Zweck haben, „zur Verbesserung des sittlichen und wirthschaftlichen Zustandes der arbeitenden Classen“ zu wirken. Es erscheinen Zeitschriften und Abhandlungen unter dem Titel „Arbeiterfreund“, „Arbeiterkatechismus“, „Arbeiterlesebuch“ u.s.w. u.s.w.

Wenn ich nun als katholischer Bischof es unternehme, unter allen diesen Stimmen und Vorschlägen auch meine Ansicht über den vorliegenden Gegenstand auszusprechen, wenn ich auch für mich den Titel „Arbeiterfreund" in Anspruch nehme, wenn ich alle christlichen Männer, denen das Wohl des Arbeiterstandes am Herzen liegt, bitte, auch meine Worte über dieses Anliegen anzuhören und zu erwägen, so ist es wohl angemessen, daß ich über die Berechtigung zu dieser Meinungsäußerung wie über den Zweck derselben einige Worte vorausschicke. Viele glauben vielleicht, ich hätte als Bischof keine Berechtigung oder jedenfalls keine hinreichende Veranlassung, mich in derartige Dinge einzumischen; Andere werden meinen, ich dürfe als katholischer Bischof mich höchstens an die Katholiken wenden. Ich bin anderer Ansicht.

Ich glaube schon insoweit ein Recht zu haben, über die Arbeiterfrage öffentlich mein Urtheil abzugeben, als dieselbe sich mit den materiellen Bedürfnissen des christlichen Volkes beschäftigt. In dieser Hinsicht ist sie auch eine Frage der christlichen Liebe. Unser göttlicher Heiland hat die christliche Religion mit Allem für immer und unauflöslich verbunden, was sich auf die Milderung des geistigen und leiblichen Elendes der Menschen bezieht. Nach dieser Anweisung hat die Kirche überall und zu allen Zeiten gehandelt. Die Uebung der christlichen Liebe in den Werken der christlichen Barmherzigkeit ist stets ein hervorragender Theil des Lebens der christlichen Kirche gewesen. Aus ihr ist die großartige Fürsorge für alle Noth der Menschen hervorgegangen. Jede Frage, die sich mit Abhilfe des Nothstandes beschäftigt, ist daher wesentlich eine christliche, eine religiöse, an der die Kirche und alle ihre lebendigen Glieder sich auf das Innigste betheiligen sollen.

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