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Erich Mendelsohn, „Das neuzeitliche Geschäftshaus" (1929)

Erich Mendelsohn (1887-1953) war einer der bekanntesten europäischen Architekten der 1920er Jahre. Er entwarf zahlreiche modernistische Warenhäuser in deutschen Städten, große Fabriken, sowie den berühmten Einsteinturm in Potsdam, der beispielhaft seine funktionale und gleichzeitig organische Ästhetik verkörpert. Nach 1933 arbeitete Mendelsohn in Großbritannien, den USA und Palästina. Obwohl er im Exil weiterhin Gebäude entwarf, erreichte er nie dieselbe Bekanntheit wie seine Zeitgenossen Walter Gropius und Mies van der Rohe. In diesem Auszug diskutiert Mendelsohn die Architektur des modernen Warenhauses in Bezug auf den breiteren Zusammenhang von Wirtschaft und städtischem Leben und spricht sich für eine Architektur aus, die an zeitgenössischen Realitäten orientiert ist.

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Kaufmann und Publikum, Verkäufer und Käufer – beide kennen die speziellen Zusammenhänge zwischen dem Handel und dem Leben von heute. Beide wissen auch, wie sehr der Einzelhandel als Hauptverteilquelle des täglichen Bedarfs der breiten Volksmasse mit dem allgemeinen Gebiet der Volkswirtschaft verbunden ist. [ . . . ] Sie können sich, als ein Teil von ihr selbst, nicht lösen von den Folgerungen dieser Wirtschaft, die Land und Stadt, Weltstadt und Volk, Nation und Erdteil, die Kontinente endlich zur Weltwirtschaft verbindet. In diesen großen Kreis als ein konzentrisches Haus eingeordnet, erkennen wir, wie alle Erscheinungsformen des Lebens vom Zentrum, dem Menschen also, ihren Zirkelschlag empfangen. Daß also auch die scheinbar realsten Dinge, die vollendetste Wirklichkeit gebunden ist, genau wie das Einzelleben, Kommen und Gehen, an Geburt und Tod.

[ . . . ]

Umso erstaunlicher also, wenn im Gegensatz zu dieser Erkenntnis, zu der verrückten Struktur aller Erscheinungen der Bereich des Bauens und der Baukunst nur träge und noch immer sehr langsam der unabänderlichen Entwicklung folgt. Die Gründe für solche Gleichgültigkeit brauchen wir nicht lange zu suchen. Aber es ist notwendig, sie beim Namen zu nennen. –

Wir können uns denken: Die Bauherren sind eingeschüchtert von früheren Experimenten (ich erinnere Sie an die Glasfassade des Warenhauses Tietz in der Leipzigerstraße zu Berlin). [ . . . ] Aber – trotzdem begeben sie sich gern in die Abhängigkeit von der Mode. Ziehen oft, gerade aus ihr, Vorteil, denn sie steigert den Absatz und bildet einen ständigen Anreiz für die Besitz- und Schmuckbegierde des Durchschnittsmenschen.

Wir können uns denken, daß den meisten das Hergebrachte als das Unabänderliche, als das Feststehende gilt – aber trotzdem greifen die Kaufherren mit Begierde jede Neuerung auf. Sei es zum Publikumsfang, zur Verbesserung des Betriebes, zur Rationalisierung oder Vereinheitlichung der Angestelltenleistungen.

Oft hängt es an dem falschen Schein ihres Kaufpalastes, einer wahren Repräsentation, an dem Größenwahn des Dilettanten, mehr oder anders scheinen zu wollen, als er ist – aber trotzdem eifern sie im Betrieb zu Sachlichkeit, zu Klarheit bei allen Anordnungen, zu Einfachheit in der Organisation.

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