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„Der Wahltag" (6. Juni 1920)


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Der Wahltag

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Die Wahl bedeutet eine Kritik der Form, in der der Staat bisher geleitet wurde. Diese Kritik soll geübt werden. Das ist der tiefere Sinn, der der Wahl zugrunde liegt. Aber sie darf nicht lediglich negativ sein, indem sie sich an die bestehenden Verhältnisse klammert, nur zu diesen Stellung nimmt und daraus ihr Ergebnis ableitet. Sie muß darüber hinaus sich die Frage vorlegen, ob es unter den gegebenen Vorbedingungen überhaupt möglich war, über das Erreichte hinaus Lebensbedingungen für den Staat und für die Einzelmitglieder des Staates zu schaffen, die einen wesentlich größeren Fortschritt bedeutet hätten. Sie nötigt dem Wähler eine Klärung der Zweifelsfrage auf, ob eine anders gerichtete oder von entgegengesetzten Gesichtspunkten ausgehende Regierungsform etwas anderes, Besseres hätte schaffen können, ob sie, stärker und lebensbejahender, der Fährnisse und Schwierigkeiten, die sich der Umbildung und Neugestaltung des Staates entgegenstellten, in besserer, glücklicherer Weise hätte Herr werden können. Und damit wird der überlegende Wähler seine Kritik ohne weiteres über die Beurteilung des Verhaltens der Regierungsparteien hinaus ausdehnen müssen auf das, was die Parteien, die die Opposition bildeten, geleistet haben oder leisten zu können behaupten. Erst, wenn er sich auch darüber klar wurde, kann er seine Stimme abgeben, ohne sich der Gefahr auszusetzen, sich später einer Unterlassungssünde zeihen zu müssen.

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Man identifiziert in manchen Wählerkreisen die heutigen Verhältnisse, soweit sie schwer auf dem einzelnen lasten, vielfach mit der jetzigen Staatsform und stellt solchen Erwägungen als Kriterium die Bedingungen gegenüber, unter denen Volk und Staat unter dem verflossenen Regime des Kaisertums lebten. Natürlich ist dieses Kriterium falsch. Keine andere Staatsform hätte alle die Folgeerscheinungen, die der verlorene Krieg zeitigte, abändern oder aus der Welt schaffen können, auch keine Monarchie. Wenn nationalistische Agitation solche Behauptungen aufstellt, so behauptet sie bewusst Falsches. Wie es überhaupt grundfalsch ist und eine Täuschung der Wählerschaft bedeutet, wenn von bestimmter Seite immer wieder versucht wird, nationales Empfinden mit dem Begriff der Notwendigkeit einer Monarchie zu identifizieren. Nationales Empfinden ist ein Begriff, der sich nicht starr an eine bestimmte Staatsform kuppeln lässt. Es wird genug Deutsche geben, die innerlich den monarchischen Staat als die für Deutschland gegebene und vorteilhafteste Staatsform ansehen und die trotzdem sich der Auffassung nicht verschließen können und wollen, daß es ein Verbrechen wäre, unter den heutigen Verhältnissen die Monarchie unbedingt wieder herstellen zu wollen. Derjenige, der wirklich national denkt und fühlt, wird als erste Richtschnur seines Handelns diesen Grundsatz aufstellen: Das zu tun und das anzustreben, was unter den gegebenen Verhältnissen für Staat und Volk die beste Aussicht auf bessere Zeiten verspricht. Das aber schließt ein ständiges sehnsüchtiges Zurückschauen auf Gewesenes aus. Das bedingt ein kräftiges und sich von jeder Ueberlieferung freimachendes Vorwärtsschauen und Vorwärtsarbeiten. Und man sollte meinen, daß hinter einer solchen Notwendigkeit Parteiinteressen und Parteistimmungen zurücktreten müssten. Daß auch sie den Wahlkampf nicht belasten dürften mit dem Hineinwerfen unfruchtbarer Vergleiche mit vergangenen Zeiten, deren Rückkehr ein Ding der Unmöglichkeit ist.

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