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Friedrich von Bodelschwingh, Vortrag in Lübeck über Fragen der Eugenik (1929)

Mit dieser Rede von 1929 reagierte der protestantische Theologe und Verfechter des öffentlichen Gesundheitswesens Friedrich von Bodelschwingh (1877-1946) energisch auf die Befürworter der Euthanasie. Auch wenn er bekannte, die Sorge über den wahrgenommenen Anstieg der physischen und geistigen Behinderungen in der deutschen Bevölkerung zu teilen, wies er die Vorstellung eines „lebensunwerten Lebens” zurück und befürwortete eine Eingliederung in die Gesellschaft durch Arbeit. In den frühen 1940er Jahren unternahm Bodelschwingh einige Anstrengungen, um die Bewohner seiner Einrichtung, der „v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel”, vor der Sterilisations- und Euthanasiepolitik der Nazis zu bewahren, wenngleich er sich nie in direkten Widerstand zum Regime begab.

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Lebensunwertes Leben? – so lautet das Thema, das mir Ihre Vereinigung für den heutigen Abend gestellt hat. Am Ende dieses Themas steht ein Fragezeichen, und dieses Fragezeichen steht, so scheint es mir, wie ein düsteres Gespenst hinter der sogenannten Kultur unserer Zeit. Seitdem in die körperlich und seelisch erschütterte Welt Spengler das Wort hineingeworfen hat vom Untergang des Abendlandes, geht durch die Nationen und durch unser Volk unablässig die Frage hindurch: Hat der Mann recht, geht es unaufhaltsam abwärts mit unserem Volk, mit Europa, sind wir schon eine entartete oder entartende Generation, und ist dieser Weg nicht mehr aufzuhalten? Als Barometer für diese Entartungserscheinungen unseres Volkes werden wir immer wieder daran erinnert, dass die Zahl der Schwachen, Kranken, geistig Zerbrochenen und Minderwertigen unablässig zunimmt. Ob zahlenmäßig absolut nun das wirklich stimmt, kann, soweit ich übersehe, die Statistik heute noch kaum nachweisen; denn es liegt in der Entwicklung unserer Zeit, dass das Elend durch die Folgen des Krieges, auch durch die moderne Wohlfahrtspflege sichtbarer geworden ist und mehr aus Schlupfwinkeln in die Öffentlichkeit kommt. Aber es scheint allerdings, dass relativ die Zahl der Schwachen an Körper und Geist, der Minderwertigen wächst. Warum? Ich nenne nur mal einen Grund, den ich nur mit Zittern anfasse.

Seitdem gewollte Kinderarmut von den sogenannten gebildeten Kreisen heruntergestiegen ist zum Mittelstand, zur gelernten Arbeiterschaft und aufs Land, verschieben sich, wenn wir die Qualitäten – so will ich einmal sagen – der Kindergeburten anschauen, die Mengen vielleicht in einer gefährlichen Weise. Oben – wenn Sie es mir erlauben dieses „Oben“ und „Unten“ festzuhalten – , oben eine immer dünnere Schicht bei den Begabten und Tüchtigen und unten eine vielleicht immer gewichtigere Schicht. Wenn ich die Zahlen ansehe in den Hilfsschulen unserer Nachbarprovinz Rheinland, da ist es so, dass in den Familien die die Hilfsschule bevölkern, die Zahl der Kinder noch durchschnittlich 5-6 beträgt. Und oben?

Ich brauche die Linie nicht weiter nachzugehen. Sie sehen ohne weiteres, was für eine katastrophale Entwicklung da sich anbahnen kann, wenn das so weiter geht. Wir können diese Tatsache gar nicht ernst genug nehmen und müssen sie jedem einzelnen in sein Gewissen schreiben, jedem Vater und jeder Mutter, auch in diesem Kreise. Gewiss ist es so, dass der Krieg auch da einen tiefen Einschnitt gemacht hat. Er rief die Tüchtigen und körperlich Brauchbaren an die Front und liess sie sterben, und die am Körper und Geist nicht Brauchbaren blieben daheim. Aber meine lieben Geschwister, wir haben wirklich in unserem Geschlecht kein Recht mehr, auf den Krieg allein, als auf den grossen Massenmörder, zu schelten. Sterben doch allein in den Vereinigten Staaten von Nordamerika jährlich infolge von Automobilunfällen mehr Menschen, als uns der ganze Krieg von 1870/71 gekostet hat, und werden doch heute in allen Kulturnationen mehr Kinder vor ihrer Geburt getötet, als der ganze „Weltkrieg“ an Menschenleben verschlungen hat!

Da liegen die Schatten, die dunklen Schatten, die auch auf der Frage des heutigen Abends liegen. Wir haben allen Grund, ihnen mit tiefstem Ernst ins Auge zu schauen. Ich verstehe gut, dass ein ernster amerikanischer Forscher seinem Volk diesen Spiegel vorgehalten hat, und er meint, wir rückten runter auf die Front der Untermenschen, d.h. der Minderwertigen, die an Zahl und Bedeutung eine immer grössere Kraft gewinnen würden, oder wenn ein anderer deutscher Forscher gesagt hat, wir würden auch in Deutschland schliesslich überschwemmt werden von einem Lumpenproletariat. Schon rechnet man, dass gegenwärtig in Deutschland 2,5% aller Menschen schwachsinnig seien und etwa der zehnte Teil zu den sogenannten Psychopathen gehöre. Wenn diese Entwicklung vorwärts schreitet, dann nähern wir uns jenem Ziel, von dem Goethe schon einmal gesprochen hat: es würde schliesslich die Welt sich verwandeln in ein grosses Hospital, wo der eine des anderen Krankenwärter ist. Gibt es ein Aufhalten dieser Entwicklung? Es meldet sich als Helfer in unserem Vaterlande und in der Welt die Wissenschaft (Rassenhygiene, Vererbungsforschung). Seit den letzten 30 Jahren hat die Arbeit auf diesen Gebieten grosse Fortschritte gemacht, die wir mit Ernst und Sorgfalt zu beachten haben.

Überall sucht man, zunächst in der Pflanzen- und Tierwelt, die Erbkeime und Erblinien zu verfolgen, in ihrer merkwürdigen Entwicklung, in ihren Veränderungen. Ich stehe in tiefer Ehrerbietung vor dieser Forschung. Ist doch z. B. ein ganzer Stab amerikanischer Gelehrter seit Jahren an der Arbeit, den Lebensgang einer kleinen, winzigen Fliege zu verfolgen in all den wunderlichen Erbmischungen und Erbgängen.

Von Forschungen dieser Art aus hofft man hinübergehen zu können in die Erbgeschichte der Menschen. Es wacht die neue Helferin, die Eugenik, die diese Erbzusammenhänge bei der Menschheit aufzeigen möchte, die die günstigen Erblinien erforscht, um sie zu pflegen und zu fördern und dadurch uns ein grösseres Wissen zu vermitteln und auch über jene geheimnisvollsten Zusammenhänge unseres Werdens und Lebens. Mit hoher Begeisterung wird diese Arbeit gepriesen. Immer wieder wird die Hoffnung in uns geweckt, es könnte daraus einmal ein neuer Aufschwung der Menschheit, ein Aufwachen aus dem Versinken und Vergehen uns geschenkt werden, und es würde schliesslich das in Erfüllung gehen, was Nietzsche gesagt hat: Heraufzüchtung des Menschengeschlechts!

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