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Morgan Philips Price über Inflation und deren Auswirkungen (18. Oktober 1923)


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18. Oktober

Der Zustand in Deutschland spottet nun buchstäblich jeglicher Beschreibung. Das ist keine Übertreibung, sondern die nackte Wahrheit. Während der Russischen Revolution 1917-18 habe ich einige sehr harte Zeiten durchlebt, aber ich erinnere mich an keine Zeit, die so schlimm war wie die, die jetzt über Deutschland hereingebrochen ist. Selbst während der schlimmsten Zeiten in Russland hatte man immer das Gefühl, dass das Leiden einem Ideal galt, dass die ganze Mühe lohnte. Heutzutage ist die wirtschaftliche Katastrophe in Deutschland schlimmer als damals in Russland, und hinzu kommt, dass es kaum einen Lichtstrahl am Horizont gibt... Im heutigen Deutschland herrscht ein völliger Zusammenbruch des kapitalistischen Verteilungs- und Tauschmechanismus, und es gibt vorerst keinerlei Anzeichen, daß irgendeiner der Möchtegern-Diktatoren imstande wäre, eine Staatsmaschinerie in Gang zu setzen, die das tun kann, was die Kommunistische Partei 1917-18 in Russland geleistet hat – nämlich, die Nation zusammenzuhalten, indem jedem zur Erlangung des gemeinsamen Ziels die gleiche Last auferlegt wurde. Die Reichsregierung ist bankrott. Die Mark hat als Währung ausgedient und besteht nur noch in einer Menge Papierpakete, die soundso viele Dollar oder Pfund wert sind. Die Zahl der Pakete pro Dollar verändert sich jeden Tag... Die Glücklichen, die im Besitz fremder Währungen sind, kommen über die Runden, aber auch das nur mit Mühe. Wenn jemand gefragt würde, wieviel es heutzutage kostet, in Deutschland zu leben, könnte er nur erwidern: „Heute morgen um zehn Uhr kostete es mich so viel, und um fünf Uhr heute nachmittag so viel.“... Die neue Währung wird, falls sie stabil ist und von einem materiellen Gegenwert gestützt wird, unter den gegenwärtig in Deutschland herrschenden Klassenbeziehungen von den Großunternehmen abhängen. Ein Prozent ihres Eigentums wird die Golddeckung ersetzen, und sie haben ihre Bedingungen für dieses „Opfer“ bereits klargestellt: die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages. Die bayerische Regierung fordert das als Stoßtruppe der Großunternehmen nachdrücklich. In der Reichsregierung wie in der Preußischen Regierung gibt es immer noch Sozialdemokraten, die verpflichtet sind, den Bedingungen der Großunternehmen Widerstand zu leisten, und die Gewerkschaften werden ein wachsames Auge auf sie haben. Aber das deutsch-französische Industriekartell ist auf dem Vormarsch und sein Motto ist: „Nieder mit dem Acht-Stunden-Tag, keine Arbeitslosenunterstützung und kein Gewerkschaftszwang mehr.“... Der Vulkan schwelt, hier und dort gibt es bereits Ausbrüche, und womöglich kann er noch eine ganze Weile in diesem Stadium unterdrückter Aktivität bestehen.




Quelle: Morgan Philips Price, Dispatches from the Weimar Republic, Versailles and German Fascism. Pluto Press, London, Sterling, Virginia, 1999, S. 169-70.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer

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