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Emil Fackenheim über seine jüdische Erziehung in den 1920er Jahren (Rückblick)


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Unser eigener Rabbi, Albert Kahlberg, hatte ziemlich großen Einfluss auf mich. Der jüdische Religionsunterricht, den er gab, schien keinen großen Platz einzunehmen, doch auch, wenn er uns einen freien Nachmittag kostete, gehörte er zum Leben dazu und wurde akzeptiert. Angesichts des Unterrichts von gerade einmal zwei Stunden pro Woche plus den gelegentlichen Jugendgottesdiensten am Nachmittag des Sabbat erstaunt es vielleicht, dass diese jüdische Erziehung an mir haften blieb. Aber mir kommen zwei Gründe in den Sinn, warum das so war. Es ging nicht um die “Relevanz” und nicht um das Drumherum, sondern nur um den Inhalt – die Tora, die Propheten, den Siddur, Geschichte und Hebräisch. Die Lehrer kannten sich in ihrem Beruf eher schlecht als recht aus. Ich formuliere das deswegen so, weil nur der Hebräisch-Lehrer Rubenstein ein ausgebildeter Lehrer war, der ganztags von der Gemeinde angestellt war. Er war außerdem der einzige polnische Jude, den ich in meiner Jugend etwas näher kennenlernte. Disziplin durchzusetzen gelang ihm nicht sehr gut, und dass wir uns über sein schlechtes Deutsch lustig machten, machte die Sache nicht besser. Aber niemand stellte seine fachliche Kompetenz in Frage, und noch immer erinnere ich mich an die Grammatik, wie er sie uns beibrachte. (Die hebräische Grammatik ist eine ebenso exakte Wissenschaft wie Latein und Griechisch, und die Erfahrung bei ihm kurierte mich von der Vorstellung, die oft mit dem nachmittäglichen jüdischen Unterricht verbunden wurde – es handele sich dabei nicht um eine “richtige” Schule.)

In einer Stunde pro Woche kann man jedoch nicht viel Hebräisch lernen. Und die Tatsache, dass die Gemeinde in Halle einen Juden aus Polen anstellte, um Hebräisch zu unterrichten, spricht Bände.

Wer waren die anderen Lehrer und in welchem Sinn waren sie professionelle Lehrer? Natürlich gab es da den Rabbi, aber auch Kaufmann, den Kantor, und Heymann, den Schammes (Synagogendiener), und da die verschiedenen Klassen an verschiedenen Nachmittagen zusammenkamen, reichten diese vier aus. Kaufmann und Heymann waren insofern vom Fach, als für sie das Judentum kein Halbtags- sondern ein Ganztagsjob war – eine lebenslange Berufung –, und es war gut, dass das Unterrichten dazugehörte. (Was für Konsequenzen es wohl hätte, wenn der Hausmeister einer amerikanischen Synagoge auch unterrichten müsste?) Ich erinnere mich gerne an Kantor Kaufmann, einen liebenswerten Menschen mit einer ausgezeichneten – ich würde sogar sagen: hingebungsvollen – Stimme, aufrichtig und ohne die Allüren eines Kantors und darüber hinaus ein kluger Lehrer. An Heymann, den Schammes, denke ich mit Zuneigung. Er war ein großgewachsener Mann, zumindest kam er uns Kindern so vor, mit einem beeindruckenden Schnurrbart wie eine Lenkstange. Einmal kam ich nach Hause und verkündete, nächstes Mal würde ich von Heymann eine Brezel bekommen. Tatsächlich handelte es sich um einen Preis, eine Pessach-Haggada. Für uns Kinder war Heymann ein geborener Geschichtenerzähler. Von den biblischen Geschichten habe ich besonders die in Erinnerung, in der die böse Isebel aus dem Fenster geworfen und von Hunden gefressen wurde.

Heymann unterrichtete uns auch in den Grundzügen der hebräischen Grammatik, aber er machte das nicht besonders gut, denn beim Herunterbeten von “mein Lied, dein Lied” und so weiter verhedderte sich ausnahmslos jeder, und Heymann titulierte den Übeltäter dann als Schaf. Einmal vergaß er das, also erinnerte ich ihn daran: “Herr Heymann, der da ist aber auch ein Schaf.”

Und dann gab es da Rabbiner Kahlberg selbst. Er unterrichtete ebenfalls verschiedene Klassen, und da er nicht jeden Sabbat predigte, nur wenige Hochzeiten und Beerdigungen zu bestreiten und abgesehen von den Feiertagen wenig anderes zu tun hatte, nahm das Unterrichten den Großteil seines Berufslebens ein. An sich keine schlechte Sache für einen Rabbi. Zugegeben, es gab keinen Unterricht für Erwachsene, weil es keine Nachfrage gab, und das könnte ihm sein Leben als Rabbiner in Halle verleidet haben. Aber später, als ich zur Vorbereitung auf Berlin bei ihm Privatunterricht hatte, verblüffte mich sein Wissen. Vorher hatte ich nur eine leise Ahnung von diesem Wissen, als er uns beispielsweise in den Vorbereitungsklassen auf die Bar Mitzwa Spinozas Ideen zu Freiheit und Determinismus nahebrachte. Erst später erfuhr ich, dass er im Seminar ein Kollege von Max Wiener gewesen war, meinem zukünftigen Berliner Philosophieprofessor.

Unsere jüdische Erziehung hatte also durchaus Substanz. Noch wichtiger war jedoch, dass sie uns die Idee vermittelte, dass das Judentum selbst etwas Dauerhaftes und nicht etwas Vergängliches, Moden Unterworfenes war: Man hatte es zu respektieren, selbst wenn es langweilig war. Und langweilig waren Kahlbergs wichtigere Predigten – zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur – oft. Aber sie waren feierlich, denn es ging in ihnen um Wahrheiten.

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