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Albert Einstein, „Was ist Relativitäts-Theorie?” (28. November 1919)

Dieser Brief an die London Times belegt beispielhaft die für Albert Einstein charakteristische Mischung von direkter, dabei gleichzeitig gelehrter Erklärung, Wärme und Humor. Einstein beschreibt seine Relativitätstheorie und dankt seinen englischen Kollegen für ihr Interesse am Verstehen und Überprüfen seines Werks. Auch wenn eine frühere Überschrift in derselben Zeitung lautete: „Einstein gegen Newton” (8. November 1919), betont Einsteins Brief die Kontinuität zwischen seinen Erkenntnissen und der „großen Schöpfung” seines englischen Vorgängers.

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Dem Ersuchen Ihres Mitarbeiters, für die „Times“ [London] etwas über „Relativität“ zu schreiben, komme ich gerne nach. Denn nach dem beklagenswerten Zusammenbruch der früher regen internationalen Beziehungen der Gelehrten ist mir dies eine willkommene Gelegenheit, mein Gefühl der Freude und der Dankbarkeit den englischen Astronomen und Physikern gegenüber auszusprechen. Es entspricht ganz den großen und stolzen Traditionen der wissenschaftlichen Arbeit in Ihrem Lande, daß bedeutende Forscher viel Zeit und Mühe Ihre wissenschaftlichen Institute, große materielle Mittel aufwandten, um eine Folgerung einer Theorie zu prüfen, die im Lande Ihrer Feinde während des Krieges vollendet und publiziert worden ist. Wenn es sich bei der Untersuchung des Einflusses des Gravitationsfeldes der Sonne auf Lichtstrahlen auch um eine rein objektive Angelegenheit handelte, so drängt es mich doch, den englische Fachgenossen auch meinen persönlichen Dank für ihr Werk zu sagen; denn ohne dasselbe hätte ich die Prüfung der wichtigsten Konsequenz meiner Theorie wohl nicht mehr erlebt.

Man kann in der Physik Theorien verschiedener Art unterscheiden. Die meisten sind konstruktive Theorien. Diese suchen aus einem relative einfachen zugrunde gelegten Formalismus, ein Bild der komplexeren Erscheinungen zu konstruieren. So sucht die kinetische Gastheorie die mechanischen, thermischen und Diffusionsvorgänge auf Bewegungen der Moleküle zurückzuführen, d.h. aus der Hypothese der Molekularbewegungen zu konstruieren. Wenn man sagt, es sei gelungen, eine Gruppe von Naturvorgängen zu begreifen, so meint man damit immer, daß eine konstruktive Theorie gefunden sei, die die betreffenden Vorgänge umfaßt.

Es gibt aber neben dieser wichtigsten Klasse von Theorien eine zweite, ich will sie Prinzip-Theorien nennen. Diese bedienen sich nicht der synthetischen, sondern der analytischen Methode. Ausgangspunkt und Basis bilden nicht hypothetische Konstruktionselemente, sondern empirisch gefundene, allgemeine Eigenschaften der Naturvorgänge, Prinzipien, aus denen dann mathematische formulierte Kriterien folgen, denen die einzelnen Vorgänge bezw. Deren theoretische Bilder zu genügen haben. So sucht die Thermodynamik aus dem allgemeinen Erfahrungs-Resultat, daß ein perpetuum mobile unmöglich sei, auf analytischem Wege Bindungen zu ermitteln, denen die einzelnen Vorgänge genügen müssen.

Vorzug der konstruktiven Theorien ist Vollständigkeit, Anpassungsfähigkeit und Anschaulichkeit, Vorzug der Prinzip-Theorie ist logische Vollkommenheit und Sicherheit der Grundlage.

Die Relativitätstheorie gehört zu den Prinzip-Theorien. Um ihr Wesen zu erfassen, muß man also in erster Linie die Prinzipe kennen lernen, auf denen sie beruht. Bevor ich auf diese eingehe, muß ich aber bemerken, daß die Relativitätstheorie einem Gebäude gleicht, das aus zwei gesonderten Stockwerken besteht, der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie. Die spezielle Relativitätstheorie, auf welcher die allgemeine ruht, bezieht sich auf alle physikalischen Vorgänge mit Ausschluß der Gravitation; die allgemeine Relativitätstheorie liefert das Gesetz der Gravitation und deren Relationen zu den andern Naturkräften.

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