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Rainer Maria Rilke, Brief an Clara Westhoff Rilke (7. November 1918)

Rainer Maria Rilke (1875-1926) schrieb während der Kriegsjahre nur wenige Gedichte. Seine ohnehin fragile Psyche wurde durch drei Wochen Militärausbildung sowie zweijährigen Dienst im österreichischen Kriegsarchiv zusätzlich traumatisiert, denn seine Aufgabe dort bestand darin, die erschütternden Frontberichte in heroische Propaganda umzuschreiben. Dieser Brief an seine Frau drückt die kurzlebige Erleichterung durch den Moment der Revolution am Kriegsende aus. Die hier beschriebene Massenversammlung im Hotel Wagner fand am Montag, den 4. November 1918 statt. Das gesellschaftliche Spektrum der Teilnehmer allein war ein Zeichen der kommenden Veränderungen, es reichte von bürgerlichen Intellektuellen wie dem berühmten Soziologen Max Weber (1864-1920) und dem Pazifisten Ludwig Quidde (1858-1941) über den Anarchisten Erich Mühsam (1878-1934) bis hin zu einfachen Studenten, Arbeitern und Soldaten. Der „blasse junge Arbeiter“, den Rilke hier zitiert, spricht die Redner zunächst mit dem förmlichen „Sie“ an, geht dann jedoch, ganz im revolutionären Geist, zum unförmlichen „Ihr“ über. In der Nachschrift beschreibt Rilke die Ausrufung der bayrischen Republik durch den Sozialisten Kurt Eisner (1867-1919).

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München, am 7. November 1918

Liebe Clara,

Dein Brief mit dem großen freien Atem (vom 28. Oktober) ist den Ereignissen vorausgeweht, wir hier in der Stadt haben nun vielmehr alles Auf und Ab und die vielen Zeitungen durchzumachen, die hundert widerlichen Gerüchte, – und bei jedem Zögern im Schritt dessen, was da endlich gekommen ist, stockt einem das Herz, als könnte diese Zukunft, die noch zu Fuß durchs Gedränge geht, stürzen oder noch einmal umkehren.

Ich war so beschäftigt mit Zuschaun und Zuhören, nein mit Hoffen vor allem, daß ich übersah, wie lange es her sein mußte, daß ich Euch geschrieben hatte. [ . . . ]

In den letzten Tagen hat München etwas von seiner Leere und Ruhe aufgegeben, die Spannungen des Augenblicks machen sich auch hier bemerklich, wenngleich sie zwischen den bajuwarischen Temperamenten sich nicht gerade geistig steigernd benehmen. Überall große Versammlungen in den Brauhaussälen, fast jeden Abend, überall Redner, unter denen in erster Reihe Professor Jaffé sich hervortut, und wo die Säle nicht ausreichen, Versammlungen unter freiem Himmel nach Tausenden. Unter Tausenden auch war ich Montag Abend in den Sälen des Hotel Wagner, Professor Max Weber aus Heidelberg, Nationalökonom, der für einen der besten Köpfe und für einen guten Redner gilt, sprach, nach ihm in der Diskussion der anarchistisch überangestrengte Mühsam und weiter Studenten, Leute, die vier Jahre an der Front gewesen waren, – alle so einfach und offen und volkstümlich. Und obwohl man um die Biertische und zwischen den Tischen so saß, daß die Kellnerinnen nur wie Holzwürmer durch die dicke Menschenstruktur sich durchfraßen, – wars garnicht beklemmend, nicht einmal für den Atem; der Dunst aus Bier und Rauch und Volk ging einem nicht unbequem ein, man gewahrte ihn kaum, so wichtig wars und so über alles gegenwärtig klar, daß die Dinge gesagt werden konnten, die endlich an der Reihe sind, und daß die einfachsten und gültigsten von diesen Dingen, soweit sie einigermaßen aufnehmlich gegeben waren, von der ungeheueren Menge mit einem schweren massiven Beifall begriffen wurden. Plötzlich stieg ein blasser junger Arbeiter hinauf, sprach ganz einfach: „Haben Sie oder Sie, habt Ihr“, sagte er, „das Waffenstillstandsangebot gemacht? und doch müßten wir das tun, nicht diese Herrn da oben; bemächtigen wir uns einer Funkenstation und sprechen wir, die gewöhnlichen Leute zu den

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