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Betty Scholem an ihrem Sohn Gershom über die Lage in Deutschland (Februar/März 1993)

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kam es vielerorts zu willkürlichen, von SA und NSDAP-Mitgliedern verübten Gewalttaten gegen Juden sowie zu Vandalismus gegen jüdische Wohnungen und Läden. Betty Scholem sah die radikaleren Maßnahmen, welche die NSDAP schon bald zur Marginalisierung und Vernichtung der Juden ergreifen würden, jedoch nicht voraus.

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Berlin, 20. Februar 1933


Liebe Kinder!

[ . . . ]

Politische Veränderungen haben bei uns zunächst immer einen geschäftlichen Chok zur Folge, das ist leider schon eine alte Erfahrung. Als Hitler Kanzler wurde, stockte à tempo jedes Geschäft, die Leute machten sogar Aufträge rückgängig, u. Annchen Sußmann kaufte einen Sack Mehl – ausgerechnet! Phiechen fragte, ob man sich wohl was hinlegt? Jawohl, sagte Erich, schaffe Dir 50 Brote an, das ist sehr klug! Jeder Ministerwechsel beinah löst automatisch die Vorstellung von Streik u. Lebensmittelnot aus. Hitler hält andauernd Schmuspauken im Radio, ohne etwas Positives zu sagen. Aber sehr positiv sind die Verbote der Zeitungen, die nur so prasseln, u. die massenhaften Entlassungen der republikanischen Beamten, von oben herunter, Landräte, höhere Polizeibeamte, Alles wird in die Wüste geschickt. Und da alle diese Leute Pensionen bekommen müssen, wird unser Beamten-Etat wieder mal aufschwellen. Die Zeitungen dürfen nicht mucksen, sogar der zahme Tempo, ein Ullsteinblättchen zur Ergänzung der B. Z. ist verboten worden, weil im Handelsteil stand, die Börse sei in Folge der Verhältnisse flau! Und die hochangesehene katholische „Germania“, der sogar Herr v. Papen nahesteht, wurde auch verboten, die kommunistischen Blätter selbstredend. Wir werden bald nichts anderes mehr zu lesen kriegen, als Nazi-Zeitungen. Hitler macht es mit Gewalt. Zunächst ist ja für die Juden nichts zu fürchten. In Verwaltung u. Beamtenschaft giebt es kaum welche, u. mit Extragesetzen wird es so schnell nicht gehen. [ . . . ]

Inzwischen war ich zu einer wunderbaren Aufführung des zweiten Faust, großartig u. erhaben war es, dauerte von 7 bis 23:45, u. ich überstand es ohne jede Anstrengung, denn ich hatte mir einen guten Platz, 2. Rang, I. Reihe, spendirt.

Wir sind weiß eingeschneit u. mit einiger Phantasie kann ich die über den weißen Dächern geballten Wolken für Berge halten, es sieht schön aus. Aber die ewige Kälte ist gräßlich! Warum wohne ich nicht in Santa Margherita am blauen Meer?!

Herzlichst Kuß Mutt

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