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Harold Nicolson, „Der Charme Berlins” (1929)

Während der Weimarer Zeit waren literarische Städteporträts in den Feuilletons und Beilagen der Zeitungen häufig anzutreffen. Einzelne Zeitungen verfügten sogar über eigene Hauptstadtkorrespondenten, die u.a. illustrierende Städtebilder verfassten. Daneben waren literarische Städtebilder auch in Zeitschriften mit erhöhtem geistigen Anspruch anzutreffen, wie das folgende Beispiel aus dem vom Kunsthändler Alfred Flechtheim begründeten Querschnitt zeigt. Der britische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson verwendet in seinem Text über Berlin, der übrigens im Querschnitt auf Englisch erschien, zu diesem Zeitpunkt schon gängige Topoi der Berichterstattung über Berlin. U.a. zu nennen ist die an den Verkehrsmitteln sichtbare Beschleunigung des Lebens, die Nicolson auch mit geistiger Rastlosigkeit und Dynamik verknüpft. Außerdem streicht er die Jugendlichkeit Berlins heraus, was sich auf den im Vergleich mit London und Paris spät erreichten Status als Metropole und Weltstadt bezieht.

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Der Charme Berlins


Mein Schlafzimmer in Berlin hat einen Ausblick auf die Hochbahn. Der Blick darauf ist diagonal, quer über einen dreiecksförmigen Garten aus lockerer Erde. In dem Garten befinden sich eine grüne Bank, ein langer rechteckiger roter Teppich, der seit acht Monaten über einem Kabel hängt, eine goldene Glaskugel auf einem grünen Stab und eine große Porzellanfigur einer Bulldogge. Die Bulldogge dreht den Zügen den Schwanz zu, wenn sie über ihr her scheppern oder donnern, doch die Glaskugel reflektiert sie sehr schnell. Selten habe ich eine derart schnelle und kontinuierliche Bewegung gesehen wie die aufblitzende Spiegelung der Züge, die über die goldene Kugel fliegen. Während ich morgens meine Krawatte binde, stehe ich am Fenster und blicke auf die Züge. Die elektrischen Bahnen bimmeln an mir vorbei wie Jungfrauen auf dem Weg zur Schule, wie Eisvögel oder Kanarienvögel, die über den Schatten eines Wasserbeckens schießen. Denn mein Garten ist ein Wasserbecken. Die großen europäischen Züge flattern von den Hauptbahnhöfen heran wie Störche oder Reiher, so langsam walzen sie anfangs voran dass die schwarzen Güterwagen, die das Ende ihrer scharlachroten Mitropa-Körper bilden, sich schwerfällig wie die Hinterbeine eines Reihers oder Storches rückwärts schleppen. Denn sie sind auf dem Weg zu dem Ledergeruch, der einen in Eydkühnen begrüßt oder zu dem Geruch eines nahen und salzigen Meeres, der einen in Bentheim begrüßt. Abends, wenn ich meine weiße Krawatte zur Abendgarderobe anlege (ein Symbol der Gefangenschaft), sind die goldene Kugel und die Bulldogge nicht mehr sichtbar. Es gibt kein Zwischenstück zwischen mir und der Reichsbahn. Die elektrischen Züge steigen auf, während sie an mir vorbeifahren, sie sind goldene Wagen, Raketen, welche Menschen befördern, die in Rummelsburg Tee getrunken haben und nun zum Abendessen zurück nach Charlottenburg fahren, sie sind die Kometen, welche die Intellektuellen aus Wilmersdorf verzückt zu nicht weniger kultivierten Häusern in Weißensee tragen. Ich sehe zu ihnen hinauf und sehe einen Lichtflecken, den Beschlag auf den Fenstern, einen Mann, der sich an die Scheibe lehnt. Sie sehen auf mich herab und sehen einen englischen Diplomaten (beleibt und liebenswürdig), der seine weiße Krawatte bindet. Sie denken, so sie Zeit zum Denken haben, „Dieser Mann ist ein Ausländer und während wir an ihm vorbeifuhren, band er seine weiße Krawatte.“ Sie denken, wenn sie Zeit zum Denken haben, „Was hindert uns Deutsche daran, weiße Krawatten zu tragen?“ Ich für meinen Teil jedoch, der inzwischen seine Weste anzieht, ich denke nur, „Was um alles auf der Welt ist es, dass dieser Stadt ihren Charme verleiht?“

Zuerst die Bewegung. Es gibt keine Stadt auf der Welt, die so rastlos ist wie Berlin. Alles bewegt sich. Die Ampeln schalten ruhelos von rot zu gelb zu grün. Die Leuchtreklamen blinken mit der erbärmlichen Wiederholung von Küstenleuchttürmen. Die Straßenbahnen schaukeln und bimmeln. Der Jaguar im Zoo schleicht die ganze Nacht fieberhaft auf und ab: das Planetarium wirft, wenn es geschlossen hat, sich drehende Planeten an seine Decke: die Museumsdirektoren schreiten um Mitternacht allein ihre Korridore entlang. Sie zeigen einen Luca Signorelli im Licht einer Taschenlampe; sie erklären einem holländischen Fotografen die Bedeutung der Fresken aus Turkestan: sie sind schlichtweg außerstande zu schlafen. Im Tiergarten flackern die kleinen Lampen zwischen den kleinen Bäumen und das Gras ist sternenübersät mit den Glühwürmchen von tausend Zigaretten. Züge preschen durch die Eingeweide der Stadt und bahnen sich ihren Weg durch die Diademe, welche sie krönen. Der Jaguar im Zoo, der gemeint hatte, es sei nun wirklich Zeit schlafen zu gehen, erhebt sich wieder und bewegt sich in seinem Käfig auf und ab. Denn in der Nachtluft, die selbst die Türme der Gedächtniskirche in Spannung aufflackern lässt, liegt ein pochendes Gefühl der Erwartung. Jeder weiß, dass Berlin jede Nacht zu einem neuen Abenteuer erwacht. Jeder ist der Ansicht, es wäre schade zu Bett zu gehen, bevor das Erwartete – oder das Unerwartete – geschieht. Jeder weiß, dass was immer geschieht, sie sich am nächsten Morgen wie neugeboren fühlen werden.

Diese physische und leuchtende Bewegung findet ihre Entsprechung in der Dynamik des Gehirns. Um 3 Uhr morgens zünden sich die Berliner eine weitere Zigarre an und beginnen erneut und erfrischt Diskussionen über Proust, Rilke oder das neue Strafgesetzbuch oder darüber, ob menschliche Schüchternheit auf Narzissmus zurückzuführen sei oder ob es klug oder unklug wäre, den Pariser Platz in ein Stadion zu verwandeln. Die Augen, die in London oder Paris schon im Schlaf zugefallen wären, sind in Berlin beschäftigt, selbst um 4 Uhr morgens neugierig, lernbegierig, suchend nach einer neuen Erfahrung oder Idee. Die Münder, die in Paris oder London am nächsten Morgen ausgetrocknet nach Alka-Seltzer verlangen würden, kauen in Berlin schon Stullen auf dem Weg zur Bank.

Als zweites nach der Bewegung kommt die Offenheit. London ist eine alte Dame in schwarzer Spitze und Diamanten, die ihre Geheimnisse würdevoll behütet und der man jene Geheimnisse, derer man sich schämt, nicht erzählen würde. Paris ist eine Frau in den besten Jahren, der man lediglich solche Geheimnisse anvertrauen würde, die man wiederholt hören möchte. Berlin jedoch ist ein Mädchen im Pullover, mit wenig Puder im Gesicht, Hölderlin in der Tasche, Schenkeln wie Atalante, einer unverarbeiteten Bildung, einem Herzen, dass beinahe zu bereit zum Mitgefühl ist und eine Weitherzigkeit in ihren Ansichten, die einem seine Hemmungen von deren Giftigkeit befreit und einen in seiner Korrektheit beschämen. Man spaziert mit ihr durch die Lichter und die Schatten. Und nach ungefähr einer Stunde geht man Hand in Hand.

Bewegung und Offenheit. Dem größten Reiz für die Nerven wird mit der größten Beruhigung entgegengewirkt. Berlin stimuliert wie Arsen, und dann, wenn einem sämtliche Nerven klimpern, kommt sie mit ihrer warmen Milch menschlicher Güte; und am Ende ist man dankbar in der Lage, für eineinhalb Stunden schlafen zu gehen.



Quelle des englischen Originaltextes: Harold Nicolson, „The Charm of Berlin”, Der Querschnitt 9 (1929).

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Insa Kummer

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