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Betty Scholem über das Chaos der Revolution (Januar 1919)

Nach dem Austritt der USPD-Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten am 28. Dezember 1918 verfügte dieser am 4. Januar 1919 die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, der dem linken Flügel der USPD angehörte. Daraufhin entfesselten die ebenso zum linken Flügel der USPD zählenden Revolutionären Obleute am 5. Januar 1919 in Berlin einen Aufstand, dem sich auch die gerade erst zur Jahreswende gegründete KPD anschloss. Bewaffnete Linksradikale besetzten mehrere Zeitungsverlage und öffentliche Gebäude; ein Revolutionsausschuss erklärte außerdem den Rat der Volksbeauftragten für abgesetzt. Zur Niederschlagung des Aufstands setzte der Oberbefehlshaber der Regierungstruppen, Gustav Noske (SPD) sowohl republikanisch orientierte Verbände, aber auch rechtsgerichtete Freikorps ein. Die als Spartakusaufstand oder auch Januaraufstand bezeichnete Revolte endete am 15. Januar 1919. Am gleichen Tag fielen die KPD-Führer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg den blutigen Vergeltungsmaßnahmen der Freikorps gegen Linksradikale zum Opfer.

Betty Scholem, die Ehefrau des wohlhabenden Berliner Druckereibesitzers Arthur Scholem, schrieb während des Aufstands die folgenden Briefe an ihren Sohn Gerhard (später Gershom) Scholem, der zu einem der führenden Gelehrten auf dem Gebiet des jüdischen Mystizismus werden sollte. Die Briefe veranschaulichen die Betroffenheit unter vielen Mitgliedern der liberalen, gebildeten Mittelschicht angesichts des Chaos und der Zerrüttung, welche die Revolution verursachte.

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Berlin, 7. Januar 1919

Mein liebes Kind!

Nur gut, daß ich Dir wenigstens eine Ansichtskarte im Voraus schrieb, denn ich komme jetzt garnicht zu einer längeren Mitteilung. Die Zeiten sind über die Maßen unruhig, fortwährend Putsche u. Krawalle, wer weiß, was wir noch erleben. Während ich hier schreibe, knattern die Maschinengewehre!! Die Spartakusleute haben alle großen Zeitungen besetzt, soeben sagt mir Vater, ein Garderegiment wäre zu ihnen übergegangen. Sie hetzen seit Tagen zum Generalstreik. Gestern haben auch bei uns die Arbeiter um 10 Uhr aufgehört, um die Straßendemonstrationen mitzumachen. Heute früh waren Alle wieder da, um nach einer halben Stunde durch den Mund ihres Vertrauensmannes, eines Spartaciden, wieder um Demonstrationsurlaub zu ersuchen.

9. Januar. Als Vater dies rundweg ablehnte, hatten sie eine Arbeiterversammlung, in der die alten vernünftigen Leute, besonders die aus dem Felde zurückgekehrten, den Spartakusonkel beinahe totschlugen u. mit allen gegen 4 Stimmen (also 4 Spartakusse im Betrieb!) die weitere Arbeitsniederlegung ablehnten. Ich schrieb den Anfang des Briefes am Dienstag Nachmittag, wo ich zu Hause blieb, denn zu Abendbrot hatte ich Richard u. Fritz Pflaums erwartet u. wollte mich darum kümmern, das Haus im besten Kleide zu zeigen. Da stellten plötzlich Stadtbahn u. Elektrische ihren Betrieb ein, in der Wilhelmstr. u. am Brandenburger Tor gab es furchtbare Schießereien, so daß die Pfläume es mit der Angst kriegten, u. zwar sehr berechtigter Weise, denn wie sollten sie aus dem Grunewald her u. wie ev. zurück?! [ . . . ]

Als Reinhold u. ich am Montag mit ihm durch Alt-Berlin wandelten, um ihm die Perlen zu zeigen, das Ephraim’sche Haus, die Nikolaikirche, Krögel, Stadthaus, Klosterstr., Marienkirche u. s. w. gerieten wir immer in die Demonstrantenzüge u. es war bemerkenswert, wie sie ausgerichtet im Tritt marschirten; denn warum denn nicht? Aus dem einfachen Grunde, sie hatten gedient! [ . . . ]

Kuß Mutt



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