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Arnold Brecht über die letzten Kriegswochen (Rückblick 1966)

Nachdem sie jahrelang Berichte über ihre militärischen Erfolge verbreitet hatte, forderte die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 plötzlich ein Waffenstillstandsangebot an die Alliierten und eine Parlamentarisierung der Regierung. Hier ging es einerseits darum, das Heer intakt zu halten, andererseits war das Kalkül Ludendorffs, die Vertreter der Reichstagsmehrheit (SPD, Zentrum, Linksliberale) an der Regierung zu beteiligen, um die Verantwortung für den Waffenstillstand auf sie abzuwälzen. Am 3. Oktober 1918 wurde Prinz Max von Baden Reichskanzler und nahm Vertreter der Reichstagsmehrheit ins Kabinett auf, was einen Frieden auf der Grundlage von Wilsons 14-Punkte Programm ermöglichen sollte. Als Resultat sowohl der Forderungen der USA als auch der demokratisierenden Bestrebungen der großen Parteien begann ein langsamer Übergang zur Demokratie, und am 28. Oktober 1918 wurde die Verfassung geändert, um eine stabile parlamentarische Demokratie zu etablieren.

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In diesen Tagen [Ende September 1918] trat die Aktion in ein neues Stadium. Während ursprünglich die Oberste Heeresleitung von der Einleitung von Friedensschritten vor einer Konsolidierung der militärischen Lage ganz absehen wollte, später Vorsicht empfahl, bittet sie jetzt auf das dringendste, das Friedensangebot gerade wegen der akuten Gefährdung der militärischen Lage sofort hinausgehen zu lassen. Am 1. Oktober kommen eine ganze Reihe von Telegrammen und Telefongesprächen aus dem Großen Hauptquartier mit dem gleichen Inhalt nach Berlin. „Heute halte die Truppe, was morgen geschehen könne, sei nicht vorauszusehen.“ Man solle das Friedensangebot „sofort hinausgehen lassen und damit nicht erst bis zur Bildung der neuen Regierung warten, die sich verzögern könne. Heute hielte die Truppe noch und wir seien in einer würdigen Lage, es könne aber jeden Augenblick ein Durchbruch erfolgen und dann käme unser Angebot im allerungünstigsten Moment.“ Und spät abends: „General Ludendorff erklärte mir [Freiherr von Lersner], daß unser Angebot von Bern aus sofort nach Washington weitergehen müsse. 48 Stunden könne die Armee nicht noch warten ... Der General betonte, daß alles darauf ankäme, daß das Angebot spätestens Mittwoch nacht oder Donnerstag früh in den Händen der Entente sei, und bittet Euer Exzellenz, alle Hebel dafür in Bewegung zu setzen.“ Am selben Nachmittag läßt Hindenburg dem Vizekanzler von Payer mitteilen, wenn bis heute abend, 7 bis 8 Uhr, Sicherheit vorhanden sei, daß Prinz Max die Regierung bilde, könne bis zum nächsten Morgen gewartet werden; sollte dagegen die Bildung der Regierung irgendwie zweifelhaft sein, so halte er die Ausgabe der Erklärung heute nacht für geboten. In einem Vortrag, den der Vertreter der Obersten Heeresleitung am 2. Oktober vormittags vor den Parteiführern des Reichstages hält, kommt auch in diesem größeren Kreise die drängende Lage scharf zum Ausdruck.

Prinz Max von Baden sträubt sich heftig gegen die gewünschte Art der Friedensaktion, weil sie in dieser Form und in diesem Augenblick einer militärischen Zwangslage die deutsche Situation für die Friedensverhandlungen offenbar sehr ungünstig gestalten würde. Er berichtet hierüber am 11. Oktober: „Am Abend des 1. Oktober sei ihm der Reichskanzlerposten angeboten worden mit dem gleichzeitigen Verlangen, sofort die Friedensvermittlung Wilsons nachzusuchen; er habe sich dagegen gesträubt und mindestens acht Tage warten wollen, um die neue Regierung zu konsolidieren und nicht den Eindruck hervorzurufen, als handelten wir bei unserer Bitte um Friedensvermittlung unter dem Drucke eines militärischen Zusammenbruchs.“

Am 2. Oktober bittet General Ludendorff um den Entwurf der Note und läßt nachmittags selbst eine Fassung telefonieren, die im wesentlichen mit dem späteren Wortlaut übereinstimmt. Der Prinz hält jedoch seine Bedenken aufrecht. Noch am 3. Oktober stellt er schriftlich eine Reihe von Vorfragen, darunter die Frage: „Ist die Oberste Heeresleitung sich bewußt, daß die Einleitung einer Friedensaktion unter dem Druck der militärischen Zwangslage zum Verlust deutscher Kolonien und deutschen Gebiets, namentlich Elsaß-Lothringens und rein polnischer Kreise der östlichen Provinzen, führen kann?“

Am gleichen Tage übersendet Hindenburg, der in Berlin anwesend ist, dem Reichskanzler nochmals schriftlich die Erklärung, „daß die Oberste Heeresleitung auf ihrer Forderung der sofortigen Absendung des Friedensangebots bestehen bleibt“. Nach eingehender Besprechung unter den Staatssekretären geht die Note unter diesem Druck der Obersten Heeresleitung in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober hinaus.

Hindenburg und Prinz Max hatten sich im Laufe des 3. Oktober über die Absendung der Note auch mündlich unterhalten. Darüber gibt der im Anhange dieses Buches zum ersten Male veröffentlichte Brief des Prinzen Max an mich wichtige Aufschlüsse.

In der Zeit bis zum Eintreffen der Antwort erklärt der Reichskanzler am 6. Oktober nach dem vorliegenden Protokoll nochmals: „Ich habe gegen Note gekämpft, erstens weil ich Moment für zu früh hielt, zweitens weil ich an Feind im allgemeinen mich wenden wollte. Jetzt müssen wir Konsequenzen in Ruhe überlegen. Jetzt muß ... Lage an der Front festgestellt werden, und zwar durch gewiegte Offiziere ... Armeeführer müssen gehört werden.“ Die Staatssekretäre äußern sich im gleichen Sinne. Der Gedanke ist offenbar der, daß Ludendorff die militärische Lage auf Grund eines Zusammenbruches der Nerven zu schlecht beurteilt haben könnte. Es entsteht nunmehr ein eigentümlicher Konflikt, der sich durch die ganzen weiteren schweren Verhandlungen vom 6. bis zum 26. Oktober hinzieht: General Ludendorff sieht in der Befragung anderer Generale ein Mißtrauen und läßt für diesen Fall mit seinem Abschied rechnen, von dem die Reichsleitung eine Beschleunigung des Zusammenbruchs befürchtet.

Der von Rathenau in der Vossischen Zeitung veröffentlichte Plan einer levée en masse wird erörtert, aber fallen gelassen, weil die militärischen Stellen, insbesondere Ludendorff selbst, sich von ihr nichts versprechen.*



* Der Ausdruck „levée en masse“ kommt tatsächlich in Rathenaus Artikel („Ein dunkler Tag“, Vossische Zeitung Nr. 512 vom 7. Oktober 1918) nicht vor. Was Rathenau empfahl, war im Falle einer nicht zufriedenstellenden Antwort Wilsons eine methodische Umgruppierung der Truppen, der Einsatz von Soldaten, die sich im Urlaub oder Heimatdienst befänden, an der Westfront, die Rekrutierung älterer Freiwilliger, um Soldaten in körperlich leichten Diensten abzulösen, und die Ersetzung von General Ludendorff. Der Artikel enthält eine erstaunlich richtige Voraussage der Antwort Wilsons und der Endergebnisse. Siehe Walther Rathenau, Briefe, Band 2, Nr. 435, 438, 450, 452, 467, 480, 518 und 580 über jenen Artikel.

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