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„Koalition der neuen Möglichkeiten” (30. November 2005)

In ihrer Regierungserklärung spricht Angela Merkel die wichtigsten politischen Herausforderungen an. Sie ist optimistisch, dass diese konstruktiv angegangen werden können. In Anlehnung an einen ihrer Vorgänger, Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 die Deutschen dazu aufrief, mehr Demokratie zu wagen, wolle sie mehr Freiheit wagen und damit vor allem die Wirtschaft von bürokratischen Regelungen befreien.

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Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor dem Deutschen Bundestag am 30. November 2005 in Berlin:


Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gestatten Sie mir aus aktuellem Anlass zunächst eine Bemerkung. Seit Freitag vergangener Woche werden im Irak eine deutsche Staatsangehörige und ihr irakischer Fahrer vermisst. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse müssen wir davon ausgehen, dass die beiden entführt worden sind. Die Bundesregierung und – ich bin sicher – auch das gesamte Hohe Haus verurteilen diese Tat mit Entschiedenheit.

Eines ist für die Bundesregierung und, wie ich denke, auch für dieses Parlament klar: Wir lassen uns nicht erpressen.

Genauso klar ist: Alle Anstrengungen der Bundesregierung sind in dieser Situation darauf gerichtet, das Leben von Susanne Osthoff und ihres irakischen Begleiters zu schützen und ihre Freilassung zu erreichen. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden und Tagen bei den Angehörigen und Freunden der Betroffenen. Wir fühlen mit ihnen. Sie sollen wissen: Alle Deutschen nehmen Anteil am Schicksal der Entführten und alle Deutschen empfinden eine tiefe Solidarität und Verbundenheit mit ihnen.

Ihnen allen möchte ich versichern: Die Bundesregierung unternimmt alles, was in ihrer Macht steht, um die deutsche Staatsangehörige und ihren Fahrer so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.

Noch wissen wir nichts über die Motive oder die Hintergründe. Daher verbieten sich voreilige Schlussfolgerungen. Aber es ist ganz grundsätzlich festzuhalten: Der internationale Terrorismus ist unverändert eine der größten Herausforderungen für die Staatengemeinschaft. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus dürfen wir nicht nachlassen. Er richtet sich gegen das, was uns wichtig ist und was den Kern unserer Zivilisation ausmacht: Er richtet sich gegen unser gesamtes Wertesystem, gegen Freiheit, Toleranz, Respekt und die Achtung der Menschenwürde, gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Würden wir diese Werte aufgeben, würden wir uns selbst aufgeben.

Noch etwas spüren wir in diesen Stunden, etwas, das unser Land auszeichnet: Vor dem Leid anderer verschließen wir weder unsere Augen noch unsere Herzen. Wir wissen, was Solidarität vermag. Wir haben erfahren, welche Kraft aus der Gemeinschaft und aus der Nächstenliebe erwachsen kann. Wir sind uns bewusst, dass ein Volk mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wenn wir diese Erkenntnis beherzigen, können wir daraus Kraft und Zuversicht schöpfen, mit denen wir auch diese großen Herausforderungen meistern können.

Dieses Signal aus diesem Hohen Haus am Anfang der Debatte ist mir sehr wichtig. Wir haben uns nämlich zusammengefunden, um heute und in den nächsten Tagen die erste Regierungserklärung der neuen Bundesregierung zu diskutieren. Ich darf Sie zu Beginn fragen: Für wen mag das heute wohl die größte Überraschung sein? Wer hätte noch vor einigen Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen?

Wer hätte gedacht, dass SPD und Union so viel Verbindendes entdecken, dass sie ein dichtes Programm für vier Jahre vorlegen?

Wer hätte gedacht, dass mein Koalitionspartner von einem Parteivorsitzenden aus Brandenburg angeführt wird? Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird? Wer hätte das alles gedacht?

Das alles ist für viele von uns eine Überraschung und ich sage: manches davon auch für mich. Aber es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter.

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