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Der Weg zu den Neuwahlen im September 2005 (Mai-Juni 2005)

In seinen Erinnerungen beschreibt der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Entscheidung, ein Jahr vor dem Ende seiner Amtszeit Neuwahlen anzukündigen. Der Widerstand gegen sein Reformprogramm Agenda 2010 in den eigenen Reihen seiner Partei, der SPD, und die Wahlniederlagen der SPD in den Bundesländern waren letztlich ausschlaggebend. Seine Ausführungen machen auch die enge Freundschaft zu dem Vorsitzenden der SPD, Franz Müntefering, deutlich.

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Ich hatte mich immer auf meinen erholsamen und tiefen Schlaf verlassen können. Während meiner Regierungszeit gab es allerdings drei Anlässe, die mich schlaflos bleiben ließen. Kosovo und Afghanistan – das bedeutete die Entscheidung, junge Soldaten in eine für sie ungewisse Zukunft zu schicken. Immer wieder ging mir die Frage durch den Kopf, wie es zu rechtfertigen sei, wenn sie ihr Leben verlieren würden. Solche Ausnahmesituationen, das Bewusstsein, auch für Leben oder Tod von Menschen verantwortlich zu sein, gehören zu den großen Belastungen dieses Amtes. Und schlaflos war ich auch nach dem Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005, in jenen Tagen, als Franz Müntefering und ich die Entscheidung trafen, Neuwahlen anzukündigen. Dies berührte mich auf ganz andere Weise. Was mich umtrieb, war vor allem die Ungewissheit darüber, ob es zur Neuwahl kommen würde oder ob verfassungsrechtliche Bedenken dies verhindern könnten. Die Entscheidungsgewalt darüber lag beim Bundespräsidenten und beim Bundesverfassungsgericht.

Ich war in dieser Zwischenphase, die mir wie eine unendliche Hängepartie erschien, ziemlich unleidlich. Noch im Nachhinein bitte ich alle um Verzeihung, die mich damals ertragen mussten. In diesen unruhigen Nächten im achten Stock durchlebte ich noch einmal die sieben Jahre als Bundeskanzler. Immer wieder setzte ich mich auch mit den Einwänden auseinander und mit dem Zweifel vor allem von Joschka Fischer, ob Neuwahlen wirklich notwendig und unabwendbar seien. Und Joschkas Meinung war mir sehr wichtig. Was hatten wir in diesen sieben Jahren nicht alles gemeinsam durchstehen müssen, vom Kosovo bis zum Irak. Er war die gesamte Zeit über ein verlässlicher Partner, dem ich nur ungern widersprach, wenn er sich mit einer Entscheidung nicht anfreunden konnte. Die Neuwahlentscheidung war eine solche.

Joschka Fischer, den ich früh mit meinen Vorstellungen konfrontiert hatte, erhob im Wesentlichen zwei Einwände. Zum einen beschäftigte ihn der lange Zeitraum zwischen der Ankündigung, in den Prozess zur Neuwahl zu gehen, und einer abschließenden Entscheidung, möglicherweise erst Monate später, durch das Bundesverfassungsgericht. Zum anderen vertrat er die Auffassung, dass eine verbesserte wirtschaftliche Situation im Jahre 2006, die alle erwarteten, eine günstigere Ausgangslage für den Wahlkampf schaffen würde. Beides waren ernst zu nehmende Argumente, die mich jedoch letztlich nicht überzeugten. Aber auch ich hatte mir immer wieder die Frage gestellt, ob es eine Alternative gäbe.

Wir hatten das katastrophale Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen im Nacken und im Norden das Debakel um Heide Simonis zu ertragen, die bei der Wahl zur Ministerpräsidentin im Kieler Landtag am 17. März 2005 ganz offenkundig an einem Heckenschützen aus den eigenen Reihen gescheitert war. Nach dem vierten verlorenen Wahlgang war ihr Rücktritt unvermeidlich. Ein Ergebnis dieser Ereignisse war der krachende Absturz von Rot-Grün in den Umfragen. Der Auslöser für den sich anbahnenden rasanten Verfall der Zustimmung zur Arbeit der Koalition aber war die Nachricht, dass die Arbeitslosenzahlen die Fünf-Millionen-Grenze überschritten hatten. Im Januar 2005 wurden genau 5,037 Millionen Arbeitslose registriert. Dass es sich dabei im Wesentlichen um einen statistischen Effekt handelte, der durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe entstanden war, machte die Symbolik der großen Zahl nicht geringer. Erstmals tauchten nun die bisherigen erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in der Arbeitslosenstatistik auf. Natürlich hatten damit der Wahlkampf in Schleswig-Holstein in seiner Schlussphase und drei Monate später der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen ihr Thema. Unsere an sich guten Aussichten im Norden welkten dahin. Die Wahldebakel entmutigten die Partei, das war deutlich spürbar. Und daraus ergab sich für mich die Frage, wie lange ich noch in den eigenen Reihen mit Unterstützung für meine Reformpolitik und für die Agenda 2010 rechnen konnte. Ich wollte eine Abstimmung über diese Politik – und so neues Vertrauen aufbauen. Die einzige Chance, das zu erreichen, war ein vorgezogener Wahlgang.

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