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Die Qual der Wahl (14. Oktober 1994)

Wenige Tage vor der Bundestagswahl im Oktober 1994 analysiert der Herausgeber der Zeit Theo Sommer die Stimmung in Deutschland. Seiner Meinung nach können sich viele Bürger weder für den amtierenden Bundeskanzler, Helmut Kohl, noch für den Kanzlerkandidaten der SPD, Rudolf Scharping, begeistern. Auch die Wahl des Koalitionspartners sei schwer. Doch brauche die Bundesrepublik eine handlungsfähige Regierung, um die anstehenden Probleme anzugehen.

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So wenig Aufbruch war noch nie


Die Qual der Wahl – war sie je größer? „Nichtwählen ist doof! Aber auch Wählen ist nicht viel besser. Denn wen und was sollen wir wählen?“ Diese Sätze entstammen einer hintersinnig formulierten Anzeige, doch sind sie vielen Bürgern aus dem Herzen gesprochen.

Wohl dem, der aus Familientradition, Gewohnheit oder blinder Loyalität sein Kreuz auf dem Stimmzettel immer an der gleichen Stelle zu machen pflegt. Die anderen jedoch haben ihr Kreuz mit dem Kreuz. Der beste Regierungschef? Die beste Regierungsmannschaft? Das beste Regierungsprogramm? Im Wahljahr-Angebot 1994 sind sie schwer auszumachen. Aus dem Flachland der deutschen Politik erhebt sich kein Nanga Parbat.

Das Mittelgebirgsmassiv des Bundeskanzlers überragt alles. Helmut Kohl hat die Chance der Wiedervereinigung mit untrüglicher Sicherheit und unbeirrbarer Entschiedenheit ergriffen. Danach hat er sich nicht einem tumben Nationaltaumel ergeben, sondern ist – nun erst recht! – dem Traum vom einigen, die Staaten überwölbenden, größeren Europa treu geblieben. Beides zusammen sichert ihm seinen geschichtlichen Rang. Wohl unterliefen ihm Fehler bei der Wiedervereinigung, Schwächen auch im europäischen Prozeß, doch wäre es eine Illusion zu glauben, beides hätte sich fehlerfrei bewältigen lassen. Bedenklicher ist schon, daß Kohl vieles vor sich herschob, darunter vieles Zukunftswichtige. Der Kanzler genießt den Abendsonnenschein, aber die Schatten werden länger. In der bevorstehenden Dämmerung wird das Unerledigte düstere Sichtbarkeit gewinnen.

Normalerweise wäre dies die Stunde der Opposition. Nach zwölf Jahren ist die Gestaltungskraft jeder Regierung erschöpft. Kohl hat, um ein Wort Willy Brandts aufzugreifen, „seine Milch gegeben“; sein ausgelaugter FDP-Partner ist ohne Gesicht und ohne Gewicht; neue Themen verlangen heute einen neuen Anfang. So empfanden es noch vor einem halben Jahr auch zwei Drittel der Bürger. Im Februar gab kaum einer noch einen Pfifferling für Helmut Kohl. Rudolf Scharping, so schien es, hatte die Wahl in der Tasche. Aber es kam dann ganz anders.

In der Geschichte der Bundesrepublik ist der Ansehensverfall, den der sozialdemokratische Kanzlerkandidat binnen sechs Monaten erlebte, ohne jedes Beispiel. Die Ursache ist einfach zu benennen: Der Kanzler hat all seine Fehler viel früher gemacht, der Kandidat hingegen beging die seinen jetzt, geballt in wenigen Monaten, im gleißenden Licht der Fernsehscheinwerfer, ohne Rabatt aufgrund historischer Leistung.

Die Liste der Fehler ist lang. Die Beleidigte-Leberwurst-Reaktion auf die Wahl Roman Herzogs zum Bundespräsidenten. Undeutlichkeiten um die Ergänzungsabgabe, die den Verdacht nährten, Scharping wisse nicht zwischen brutto und netto zu unterscheiden. Die Magdeburger Regierungsbildung – eine verheerende Fehlkalkulation. Die beiden Rohrkrepierer: die Vorstellung des Schattenkabinetts (es entsprach durchaus seinem Namen) und des bunten Haufens von Beratern. Die Bildung der Troika, die den Eindruck verstärkte, Scharping sei allein nicht Manns genug, es mit Kohl aufzunehmen. Dazu eine unsägliche Plakatwerbung: Scharping, Lafontaine und Schröder als hölzerne Puppen („Stark“), blendendweiße Zähne, doch kein Biß. Schließlich Scharpings einschläfernde Kanzleivorsteher-Art; da zündete nichts.

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