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50 Jahre Römische Verträge und das Europa von unten (19. März 2007)

Anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge werden drei ausländische Journalisten, die in Berlin leben, nach ihren Eindrücken von Europa befragt. Vor dem Hintergrund einer Reise nach Verdun vermischt der Amerikaner William Boston die positive Seite der europäischen Vereinigung geschickt mit einer Frage nach dem Europa von unten. Er schließt seinen Aufsatz mit einem Verweis auf Lincolns Rede von Gettysburg. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, so bemerkt er, waren die Amerikaner gezwungen, ihre Einheit zu erneuern. Er fordert die Bürger Europas dazu auf, ebenfalls eine neue Vision für die EU zu finden.

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Wenn Europa nur am Rande liegt



Wer zum Teufel ist José Manuel Barroso? Er ist so etwas wie der CEO, der Chief Executive Officer, also der Geschäftsführer von Europa, aber keiner kennt ihn, wenn er ihn nicht kennen muss, also wer kein Politiker, Journalist, Verbandsfunktionär oder der Chef von Microsoft ist. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass die meisten Amerikaner nicht merken werden, dass Europa 50 wird. Da verrate ich kein Geheimnis. Und, das ist jetzt reine Vermutung, aber ich würde stark behaupten, dass es vielen Europäern genauso geht. Probieren Sie es selber. Gehen Sie zum Bäcker und fragen Sie: „Wer ist José Manuel Barroso?“


Entlang der Straße der Freiheit

Als ich gefragt wurde, ob ich über meine Eindrücke, also die Eindrücke eines Amerikaners, von Europa anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge schreiben würde, dachte ich zunächst: Ist das eine Fangfrage? Sollte ich hier die alte Diskussion über die berühmte Telefonnummer von „Europa“, die Kissinger haben wollte, wieder aufwärmen, das was man GASP (auf Englisch passend übersetzt als Keuchen) nennt, bemängeln oder für alte Vorurteile herhalten? Lieber nicht. Eher würde ich von den Errungenschaften der Europäischen Union sprechen wollen, und das meine ich, ohne ironisch zu werden.


Richtung Normandie

Vor zwei Jahren bin ich mit meinem Sohn vom Rhein bis Paris mit dem Fahrrad gefahren. Wir sind die Mosel aufwärts nach Metz und dann, was die Franzosen „Straße der Freiheit“ nennen, entlang geradelt. Das ist auch die Route, die die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg in umgekehrter Richtung von der Normandie bis an den Rhein genommen haben. Es gibt sogar ein kleines Schild, das markiert, wo die Amerikaner zum ersten Mal die Mosel überquerten. Unser Ziel war zunächst Verdun und die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Aber, wie Sie nur zu gut wissen, waren die Orte Schauplätze von mehr als einem Krieg. In einem Ort entlang „des heiligen Wegs“, so tauften die Franzosen damals die Nachschub-Straße für ihre Soldaten in Verdun – gab es ein Schild: Friedhof des deutsch-französischen Krieges 1870-71. Und immer wieder gab es amerikanische Friedhöfe aus den beiden Weltkriegen.


Die alten Geister des Krieges

Als Kind war ich in einem Sommerurlaub mit der Familie nach Gettysburg, Pennsylvania gefahren. Wir haben das Schlachtfeld besichtigt, das Symbol für den amerikanischen Bürgerkrieg und Erneuerung der amerikanischen Demokratie wurde. Eine Schlacht, die in drei Tagen mehr als 50.000 Tote gefordert hat. Nach 20 Jahren in Europa war ich auf der Reise mit meinem Sohn aber zum ersten Mal in Verdun. Verdun hat mich sehr an Gettysburg erinnert, wo Bruder gegen Bruder kämpfte. Wie in Elsass-Lothringen, wo die Grabsteine Namen aus einem Gemisch aus Deutsch und Französisch tragen. Man spürt die alten Geister, und aus heutiger Sicht kann man es einfach nicht fassen.


Lincolns Startschuss für Europa

Nach der Schlacht von Gettysburg hielt Präsident Lincoln seine berühmte Rede – nur 285 Worte, fast unglaublich, wenn man bedenkt, wie viele Worte zum Thema Europa in den nächsten Tagen gesprochen werden. Er hat kurz und knapp den Opfern auf beiden Seiten gedacht und die Erneuerung der Union beschworen. Und die Amerikaner werden nichts tun, wenn sie nicht allem einen höheren Sinn geben würden. So scheint es mir passend, dass die Menschen in Gettysburg meinen, dass nicht Karl der Große, sondern Honest Abe Lincoln den Startschuss für Europa gab. Auf der Webseite www.gettysburg.com schreiben sie: „Lincolns Worte haben die Samen der Demokratie wieder neu ausgesät, die 127 Jahre später zum Fall der Berliner Mauer und zu demokratischen Wahlen in Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und sogar Russland führten.“ Na also. Jedenfalls, als Helmut Kohl und François Mitterand in Verdun waren, haben sie auch versucht, uns eine politische Vision von Europa zu vermitteln. Was dabei raus kam, ist der Euro. Auch gut. Und mehr Kompetenzen für Mr. Barroso, den keiner kennt. Nicht so gut. Aber ich denke, eine Union lebt von den Menschen, die sie mit Leben füllen. Bürgern, die an die Idee der Union leidenschaftlich glauben. Wer will heute die europäische Idee noch erneuern und mit Leben füllen? Die Menschen müssen doch einen Grund haben, Mr. Barroso kennen zu wollen.

William Boston (48) lebt in Berlin, und schreibt als freier Journalist für Zeitschriften und Zeitungen in den USA.



Quelle: William Boston, „Wenn Europa nur am Rande liegt“, Das Parlament, Nr. 12, 19. März 2007.

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