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Europa als Wertegemeinschaft (28. Dezember 2005)

Die Vertiefung des europäischen Integrationsprojektes, so der Historiker Heinrich August Winkler, ist mehr als nur die Reform der Institutionen und Entscheidungsprozesse. Zum Projekt Europa gehöre auch eine Identifikation mit gemeinsamen Werten. Die Erweiterung der EU stoße an ihre Grenzen, wenn Fragen der politischen Kultur vernachlässigt werden. Der diskutierte Beitritt der Türkei sei dafür ein gutes Beispiel.

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Überdehntes Wir-Gefühl

Als Wertegemeinschaft kann die EU nur Nationen umfassen, die sich der politischen Kultur des Westens vorbehaltlos öffnen


Europa steckt in einer tiefen Krise. Seit am 29. Mai 2005 die Franzosen und drei Tage später auch die Niederländer in Volksabstimmungen den Vertrag über eine europäische Verfassung abgelehnt haben, steht fest, daß der Vertrag, so wie er ist, nicht in Kraft treten wird. Mit der gemeinsamen Verfassung wollte die Europäische Union jene Reformen verwirklichen, die notwendig sind, damit die Gemeinschaft auch nach der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern am 1. Mai 2004 dauerhaft funktionstüchtig bleibt – und fähig, weitere Mitglieder zu integrieren.

Am 1. Januar 2007, spätestens aber zu Beginn des folgenden Jahres, sollen Bulgarien und Rumänien Mitglieder der EU werden. In der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 2005 haben die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien begonnen. Den Staaten des westlichen Balkans ist die Aussicht auf spätere Vollmitgliedschaft zugesichert worden. Wie die EU die Aufnahme dieser Staaten institutionell bewältigen soll, ist jedoch völlig unklar.

Das Nein der Franzosen und der Niederländer zum Verfassungsvertrag war Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie Europapolitik seit langem betrieben wird – nämlich über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg. Grundlegende Entscheidungen fallen hinter verschlossenen Türen, ohne daß zuvor in den nationalen Parlamenten und in der Öffentlichkeit darüber diskutiert worden wäre. Was von der Europäischen Kommission in Brüssel kommt, gilt in weiten Teilen der Bevölkerung als entfremdete, demokratisch nicht legitimierte, von niemandem, schon gar nicht vom Europäischen Parlament wirksam kontrollierte Politik. „Verselbständigte Macht der Exekutivgewalt“: Diese von Karl Marx 1852 im Hinblick auf das bonapartistische Regime Napoleons III. geprägte Formel ist durchaus geeignet, das Wirken der Europäischen Kommission zu charakterisieren.

Fehlender „Legitimitätsglauben“ (Max Weber): So läßt sich die Krise des europäischen Einigungsprozesses beschreiben, aber nicht erklären. Die wichtigste Ursache der derzeitigen Krise ist die Kluft, die sich zwischen Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union aufgetan hat. In keinem Mitgliedsland der EU war die Hoffnung auf eine Konvergenz, um nicht mit Leibniz zu sagen: eine „prästabilierte Harmonie“, von Erweiterung und Vertiefung so weit verbreitet wie in Deutschland. In der deutschen Konvergenzillusion flossen zwei andere deutsche Illusionen zusammen: die föderalistische und die postnationale Illusion.

Von der föderalistischen Illusion ging auch noch Joschka Fischer in seiner legendären „Humboldt-Rede“ vom 12. Mai 2000 aus. Er forderte „den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation“, „ein europäisches Parlament und eine eben solche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben“. Diese Föderation würde sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben. Von Fischers Rede blieb vor allem eines: der Begriff „Verfassungsvertrag“. Aber es war eben nur der Begriff und nicht das, was der deutsche Außenminister darunter verstanden hatte. Dem Werk des Verfassungskonvents wäre mit einem weniger irreführenden Etikett gewiß besser gedient gewesen.

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