GHDI logo


Die EU in der Krise (2. Juni 2005)

Das Nein zum EU-Verfassungsvertrag durch französische und niederländische Wähler war ein Signal, das europäische Staatsführer ernstnehmen mussten. In diesem Artikel resümiert Martin Klingst die Gründe für die Ablehnung und fordert die EU-Politiker auf, den Bürgern Aufgaben und Grenzen einer europäischen Politik klar zu vermitteln, um diese für das Projekt Europa zurück zu gewinnen.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Wer auf das Volk nicht hört
Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, das Nein zur europäischen Verfassung kleinzureden


Zuerst die gute Nachricht: Am non der Franzosen und am absehbaren nee der Holländer (ihr Votum lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor) zum Verfassungsvertrag wird die EU nicht zerschellen. Dafür ist die europäische Idee zu wichtig. Dafür ist die Union wirtschaftlich zu stark, politisch zu stabil und trotz ihrer gewaltigen Probleme für alle Welt zu attraktiv. Von der Ukraine über die Türkei bis nach Marokko – alle Nachbarn der EU, die dauerhaft nach Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand streben, wollen in die Union. Zudem bilden die Verfassungsgegner keine einheitliche Front, nur eine Minderheit lehnt die EU strikt ab, die große Mehrheit hingegen streitet für die Union – allerdings für eine sozialere, schmalere, gemächlichere als die gegenwärtige.

Nun aber die schlechte und im Augenblick dringlichere Nachricht: Das non und das nee sind Ausdruck einer tiefen europäischen Krise und spiegeln eine Grundstimmung wider, die weit über Frankreich und Holland hinausreicht. Wer das Gegenteil behauptet und immer noch meint, hier straften bloß zwei Völker ihre nationalen Regierungen ab, täuscht sich und alle anderen gewaltig. Das Nein der beiden Gründernationen, die vormals im Ruf tadelloser, geradezu streberhafter Supereuropäer standen, gilt auch der EU – vor allem aber dem Weg, den die Union in den vergangenen Jahren eingeschlagen hat.

Es ist ein wildes Durcheinander von Stimmen und Stimmungen. Den meisten Franzosen und Holländern geht alles zu schnell und zu weit – oder nicht weit genug: die Ausdehnung der EU, die Liberalisierung der Wirtschaft, der Brüsseler Überbau, die Beschneidung nationaler sozialer Standards und Grundrechte. Fragte man die Deutschen direkt, würden sie wohl auch »Halt« rufen. Um Europas Weg wird heftig gekämpft – und das zu einer Zeit, da sich jene Staatsführer, die in Europa das Sagen haben, im Niedergang befinden: Gerhard Schröder ist fast k.o., Jacques Chirac taumelt, Tony Blair ist angezählt, Silvio Berlusconi hängt in den Seilen.

Es wäre fatal, die EU-Regierungschefs machten jetzt einfach weiter wie bisher. Schon empfehlen Luxemburgs Premier Juncker und Frankreichs Ex-Präsident Giscard d’Estaing, die Franzosen demnächst noch einmal abstimmen zu lassen, bis das Ergebnis passt. Und auch aus diesem Satz spricht die Arroganz der Macht: »Zum bisherigen Weg gibt es keine Alternative!« Das aber wäre das Ende aller Politik – wozu dann noch wählen? Wollen die Regierungschefs die Union retten, müssen sie innehalten, prüfen, manches neu justieren – und alles unternehmen, um die Bürger für die EU zu gewinnen.

Den Menschen ist die Union trotz aller bunten Werbeprospekte, Volksfeste und Brüsseler Charmeoffensiven fremd und sogar ein wenig bedrohlich geblieben. Mit Recht konstatiert der französische Soziologe und glühende EU-Befürworter Alain Touraine: »Tatsächlich ist der Gegensatz von Ja und Nein in erster Linie einer von oben und unten.« Die »da oben« haben die Bodenhaftung verloren. Tragisch nur, dass der Unmut »da unten« sich ausgerechnet an der Verfassung auslässt, die das Raumschiff EU endlich auf den Boden bringen könnte. Wer weiß, vielleicht wäre das Ergebnis anders ausgefallen, wenn alle europäischen Völker gemeinsam am selben Tag abgestimmt hätten. Vielleicht wäre so wenigstens zum ersten Mal in Europa der Hauch eines Wir-Gefühls aufgekommen.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite