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Europa und die USA (31. Mai 2003)

Diesem Manifest des französischen Philosophen Jacques Derrida und des deutschen Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas kam in der europäischen Debatte um den Irakkrieg eine besondere Bedeutung zu. Beide gelangten zu dem Ergebnis, dass der unbeliebte Krieg den Europäern das Scheitern ihrer gemeinsamen Außenpolitik ins Bewusstsein gerufen hatte. Europa müsste ihrer Meinung nach „sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen“, auf der internationalen Bühne ebenso wie in der UN, „um der hegemonialen Unilateralität der Vereinigten Staaten etwas entgegenzusetzen.“ Die Philosophen forderten diejenigen Länder, welche für eine enge europäische Kooperation eintraten, auf, eine führende Rolle bei der Herausarbeitung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzunehmen. Kritiker des Manifestes sahen es in erster Linie als eine Aufforderung zu einer bewussten Abspaltung von den Vereinigten Staaten an. Wiederum andere kritisierten, dass die um den Irakkrieg geführte intellektuelle Debatte vor allem in westeuropäischen Zeitungen stattfand und osteuropäische Positionen darin nicht vorkamen.

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Unsere Erneuerung
Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas


Jürgen Habermas und mir liegt es am Herzen, diese Analyse, die zugleich ein Aufruf ist, gemeinsam zu unterzeichnen. Wir halten es heute für notwendig und dringend, daß ungeachtet der Auseinandersetzungen, die uns in der Vergangenheit getrennt haben mögen, deutsche und französische Philosophen ihre Stimme gemeinsam erheben. Dieser Text wurde – man wird es leicht erkennen – von Jürgen Habermas verfaßt. Ich selbst konnte aufgrund persönlicher Umstände keinen eigenen Text schreiben, obwohl ich es gerne getan hätte. Ich habe gleichwohl Jürgen Habermas vorgeschlagen, daß ich diesen Aufruf mit unterzeichne. Ich teile dessen maßgebliche Prämissen und Perspektiven: die Bestimmung von neuen europäischen politischen Verantwortungen jenseits jeden Eurozentrismus, den Aufruf zu einer abermaligen Bestätigung und effektiven Veränderung des internationalen Rechts und seiner Institutionen, insbesondere der Vereinten Nationen, eine neue Konzeption und eine neue Praxis der Verteilung der Staatsgewalten et cetera in einem Geist, wenn nicht gar in einem Sinn, die auf die kantische Tradition verweisen. Übrigens überschneiden sich die Bemerkungen von Jürgen Habermas in vielen Punkten mit Überlegungen, die ich kürzlich in meinem Buch Voyou – Deux Essais sur la raison (Galilée 2002) entwickelt habe. Von Jürgen Habermas und mir erscheint in den Vereinigten Staaten in wenigen Tagen ein Buch mit zwei Gesprächen, die jeder von uns in New York nach dem 11. September 2002 geführt hat. Bei allen offenkundigen Unterschieden in unseren Ansätzen und Argumentationen berühren sich auch hier unsere Ansichten im Hinblick auf die Zukunft der Institutionen des internationalen Rechts und die neuen Aufgaben für Europa.

Jacques Derrida

Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen ihren verblüfften Lesern von jener Loyalitätsbekundung gegenüber Bush Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpräsident die kriegswilligen europäischen Regierungen hinter dem Rücken der anderen EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebensowenig den 15. Februar 2003, als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten. Die Gleichzeitigkeit dieser überwältigenden Demonstrationen – der größten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen.

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