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Europäische Föderation (12. Mai 2000)

In einer im In- und Ausland viel beachteten Rede befasst sich Joschka Fischer als „überzeugter Europäer und deutscher Parlamentarier“ und ausdrücklich nicht als Vertreter der Bundesregierung mit der zukünftigen Gestalt Europas. Er skizziert die Grundlinien einer Europäischen Föderation, in der jedoch die Nationalstaaten weiterhin eine bedeutende Rolle spielen werden.

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Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration
Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer in der Humboldt-Universität in Berlin am 12. Mai 2000



Fast auf den Tag vor 50 Jahren stellte Robert Schuman seine Vision einer „Europäischen Föderation“ zur Bewahrung des Friedens vor. Hiermit begann eine völlig neue Ära in der europäischen Geschichte. Die europäische Integration war die Antwort auf Jahrhunderte eines prekären Gleichgewichts der Mächte auf diesem Kontinent, das immer wieder in verheerende Hegemonialkriege umschlug, die in den beiden Weltkriegen zwischen 1914 und 1945 kulminierten. Der Kern des Europagedankens nach 1945 war und ist deshalb die Absage an das Prinzip der balance of power, des europäischen Gleichgewichtssystems und des Hegemonialstrebens einzelner Staaten, wie es nach dem Westfälischen Frieden von 1648 entstanden war, durch eine enge Verflechtung ihrer vitalen Interessen und die Übertragung nationalstaatlicher Souveränitätsrechte an supranationale europäische Institutionen.

Ein halbes Jahrhundert später ist Europa, der europäische Einigungsprozeß für alle beteiligten Staaten und Völker die wohl wichtigste politische Herausforderung, da sein Erfolg oder Scheitern oder auch nur die Stagnation dieses Einigungsprozesses für die Zukunft von uns allen, vor allem aber für die Zukunft der jungen Generation von überragender Bedeutung sein wird. Und eben dieser europäische Einigungsprozeß ist gegenwärtig bei vielen Menschen ins Gerede gekommen, gilt als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel und bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls aber als gefährlich.

Ich möchte mich gerade deshalb für die Gelegenheit bedanken, heute dazu öffentlich einige grundsätzlichere und konzeptionelle Überlegungen über die zukünftige Gestalt Europas entwickeln zu können. Gestatten Sie mir deshalb auch, für die Dauer dieser Rede, die beim öffentlichen Nachdenken bisweilen beengende Rolle des deutschen Außenministers und Mitglieds der Bundesregierung hinter mir zu lassen, auch wenn ich weiß, daß dies nicht wirklich geht. Aber ich möchte heute eben nicht über die operativen Herausforderungen der Europapolitik in den nächsten Monaten zu Ihnen sprechen, nicht also über die laufende Regierungskonferenz, die Osterweiterung der EU und alle anderen wichtigen Fragen, die wir heute und morgen zu lösen haben, sondern vielmehr über die möglichen strategischen Perspektiven der europäischen Integration weit über das nächste Jahrzehnt und über die Regierungskonferenz hinaus.

Es geht also, wohlgemerkt, nicht um die Position der Bundesregierung, sondern um einen Beitrag zu einer öffentlich längst begonnen Diskussion um die „Finalität“, um die „Vollendung“ der europäischen Integration, und dies will ich eben als überzeugter Europäer und deutscher Parlamentarier tun. Um so mehr freue ich mich deshalb, daß beim letzten informellen Außenministertreffen der EU auf den Azoren, dank der Initiative der portugiesischen Präsidentschaft, exakt zu diesem Thema der Finalität der europäischen Integration eine lange, ausführliche und überaus produktive Diskussion stattgefunden hat, die sicher Konsequenzen zeitigen wird.

Man kann es gegenwärtig fast mit den Händen greifen, daß zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und mitten im Beginn des Zeitalters der Globalisierung die europäischen Probleme und Herausforderungen sich zu einem Knoten geschürzt haben, der innerhalb der bestehenden Vorgaben nur noch sehr schwer aufzulösen sein wird: Die Einführung der gemeinsamen Währung, die beginnende Osterweiterung der EU, die Krise der letzten EU-Kommission, die geringe Akzeptanz von europäischem Parlament und europäischen Wahlen, die Kriege auf dem Balkan und die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik definieren nicht nur das Erreichte, sondern bestimmen auch die zu bewältigenden Herausforderungen.

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