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Eine schlagkräftige europäische Verteidigung? (28. Dezember 1999)

Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien stellten die Leistungsfähigkeit einer europäischen Verteidigung ernsthaft in Frage. Lothar Rühl, ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium, analysiert die Schwächen der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Er plädiert für eine Modernisierung der europäischen Streitkräfte, um künftig gemeinsam mit den USA, aber auch unabhängig von den USA, strategisch-militärische Aufgaben übernehmen zu können.

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Die Kräfte müssen konzentriert werden
Ein Eurokorps Machart „Nato light“ oder Entlastung für Amerika in internationalen Krisen durch europäische Schlagkraft?


Die jüngsten Beschlüsse der EU und die Planungsfluchtlinien für die Aufstellung eines europäischen Eingreifkorps von 50 000 bis 60 000 Mann werden offiziell als „Schritt in die richtige Richtung“ militärischer Handlungsfähigkeit Europas gewürdigt. Dies geschieht auch bei der Nato in Brüssel und in Washington. Aber stimmt die 1999 eingeschlagene Richtung mit den Realitäten im Bündnis und an der risikoreichen Peripherie Europas überein? Werden die künftigen europäischen Krisenreaktionskräfte zur Bewältigung größerer Spannungskrisen und im Falle einer Eskalation zur Beendigung bewaffneter Konflikte höherer Intensität ausreichen? Wie sollen sie mit amerikanischen Streitkräften operativ zusammenwirken können, wenn europäische Aktionen in den Grenzen der „Petersberg-Aufgaben“ für die WEU von 1992, die nach den EU-Beschlüssen von 1999 den Rahmen für solche Einsätze und die Maßstäbe für die Fähigkeiten von EU-Streitkräften setzen, nicht ausreichen sollten – wenn also Nato-Einsätze mit amerikanischen Kräften nötig würden wie in Bosnien und im Kosovo?

Die EU-Partner werden die Antworten auf solche Fragen nach der Nützlichkeit ihres Vorhabens als Nato-Verbündete geben müssen. Denn ihre Streitkräfte müssen bündnisverwendungsfähig, operativ kompatibel mit den amerikanischen Streitkräften nicht nur in Europa, sondern auch außerhalb Europas in größerer Distanz von ihren Heimatbasen sein, damit sie wirksam eingesetzt werden und einen der Bedeutung Europas in der Allianz angemessenen Anteil an der Last schultern können.

Die amerikanischen Sorgen, Zweifel und Vorbehalte wurden bald nach der EU-Gipfelkonferenz von Helsinki wieder deutlich: Welchen Weg schlägt Europa wirklich ein? Und wohin wird er die EU im Zuge ihrer künftigen Erweiterungen führen? Wird die EU die Kraft und die militärischen Mittel aufbringen, um den erweiterten, politisch zu organisierenden Wirtschaftsraum in Osteuropa auch zu decken? Diese Frage muss Washington beschäftigen, weil im Notfall amerikanische Macht die europäischen Defizite wird kompensieren müssen. Vizeaußenminister Talbott erinnerte in Brüssel Mitte Dezember die europäischen Nato-Partner daran. Umso stärker das amerikanische Drängen, die knappen Mittel beim Aufbau von EU-Militärkapazitäten nicht der Nato zu entziehen. Die Sorge wird von den Bündnisautoritäten in Brüssel umso mehr geteilt, als das Baltikum in Nordosten außerhalb der Nato liegt, aber in das Bündnis strebt wie bisher sieben Balkan-Länder, von denen drei vom Kosovo-Krieg unmittelbar als Nachbarn betroffen wurden. Nordeuropa bleibt eine Zwischenzone des Übergangs in eine russische Interessensphäre, und im Südosten wird der strategische Verbündete Amerikas an der Grenze zwischen Europa und Asien, die Türkei, in absehbarer Zukunft nicht Mitglied der EU werden. Der „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ wird ohnehin die politische Verantwortungssphäre der EU in Richtung auf die Ukraine und das Schwarze Meer erweitern, womit auch der Kaukasus über den westeuropäischen Horizont rückt und die Reibungsfläche zu Russland sich vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer verbreitert. Wie aber soll jemals eine wirksame „europäische Verteidigung“ oder auch nur eine militärische Krisenbeherrschung im Südosten oder im östlichen Mittelmeer zur Levante hin Realität werden ohne die aktive Mitwirkung der Türkei? Wird Europa die Vereinigten Staaten künftig militärisch für seine Sicherheit mehr in Anspruch nehmen, weil die eigenen Kräfte immer weniger ausreichen, um die europäischen Ambitionen zu tragen, oder kann die EU im Bündnis Amerika militärisch entlasten?

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