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Die Bedeutung der europäischen Integration (2. Februar 1996)

Bundeskanzler Helmut Kohl unterstreicht die bedeutende Rolle der europäischen Integration im 21. Jahrhundert. Europäische Integration sei nach wie „eine Frage von Krieg und Frieden“. Europa müsse sein Gewicht in der Welt geltend machen und wirtschaftlich wettbewerbsfähig sein. Dazu seien Fortschritte in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in einer koordinierten Innen- und Rechtspolitik nötig. Die EU müsse ihre Entscheidungsprozesse reformieren, um beim Bürger mehr Zustimmung zu finden.

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Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholische Universität am 2. Februar 1996 in Löwen/Belgien


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Es gibt keine vernünftige Alternative zu einem immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker. Wir müssen das Haus Europa bauen. Wir alle brauchen das vereinte Europa. Ich möchte hier besonders drei Gründe hervorheben, die für mich besonders wichtig sind:

Erstens: Die Politik der europäischen Einigung ist in Wirklichkeit eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. So hat es auch mein verstorbener Freund François Mitterrand gesehen. Am 17. Januar 1995 sagte er vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: „Der Nationalismus, das ist der Krieg.“ Ich weiß, einige möchten dies nicht gerne hören. Meine Warnungen mögen eine unangenehme Wahrheit enthalten. Es hilft aber nicht, diese Grundfrage zu leugnen. Fehlt der Schwung zur Fortsetzung des Einigungswerks, dann gibt es nicht nur Stillstand, sondern auch Rückschritt. Wir wollen kein Zurück in den Nationalstaat alter Prägung. Ich sage es in der Sprache von Thomas Mann aus den frühen dreißiger Jahren, der den Deutschen damals zurief: „Wir sind deutsche Europäer und europäische Deutsche!“ Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts kann die großen Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen. Der Nationalismus hat – denken wir nur an die ersten fünfzig Jahre dieses Jahrhunderts – unserem Erdteil großes Leid gebracht. Wir sollten vier Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts endlich begreifen, daß es Zeit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen.

Zweitens brauchen wir Europa, damit unser gemeinsames Wort in der Welt Gewicht hat. Unsere gemeinsamen Interessen können wir nur angemessen zur Geltung bringen, wenn wir mit einer Stimme sprechen und unsere Kräfte bündeln. Das gilt im Verhältnis zu all unseren Partnern und Freunden, auch zu denen auf der anderen Seite des Atlantiks. Gerade wer für eine enge Bindung Europas an die transatlantische Freundschaft und Partnerschaft ist, muß sich als Europäer auch zur eigenen Identität bekennen.

Und drittens brauchen wir alle Europa, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben. Nur gemeinsam können wir uns im weltweiten Wettbewerb mit den anderen großen Wirtschaftsräumen Ostasien und Nordamerika – und mit dem Pakt Mercosur tritt auch Lateinamerika hinzu – behaupten. [ . . . ]

Wir stehen am Vorabend der Regierungskonferenz, die sich mit der Überprüfung des im Februar 1992 geschlossenen Vertrags von Maastricht befassen wird. Ich wage die Behauptung: Wenn wir jetzt auf dem Weg nach Europa zurückgeworfen werden, dann dauert es wesentlich länger als eine Generation, bis wir erneut eine solche Chance erhalten. Für mich sind Fortschritte in vier Bereichen ganz besonders wichtig:

Erstens: Die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik; nach den furchtbaren Kriegsjahren im früheren Jugoslawien muß man dieses Ziel nicht umständlich rechtfertigen. Gerade weil wir nicht zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fähig waren, weil wir solche Verträge noch nicht geschlossen haben, haben wir uns so schrecklich blamiert. Weitere Fortschritte dabei dürfen wir nicht von den unvermeidlichen Schwierigkeiten in manchen Details blockieren lassen.

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