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Wie die Regierung Fremdenfeindlichkeit erklärt (2. März 1994)

Alarmiert von der Gewalt gegen Ausländer, veröffentlicht die CDU/FDP-Regierung einen Bericht, der für die Vorfälle Jugendarbeitslosigkeit und Nationalismus in den ostdeutschen Ländern verantwortlich macht und als Heilmittel „Medienbildung“ anbietet – ein Vorschlag, der von der Opposition rundweg abgelehnt wird.

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Arbeitslosigkeit bringt Jugendliche auf Abwege
Drei Viertel der fremdenfeindlichen Straftaten gehen auf das Konto von unter 20jährigen



Mit den Anliegen Jugendlicher lassen sich für Politiker gemeinhin wenig Punkte machen. Aufgeschreckt wurden die Fraktionen von CDU/CSU und FDP im vergangenen Jahr, als die Gewalt der Heranwachsenden zu eskalieren schien. Rechtsextremisten – viele nicht älter als 20 Jahre – zündelten an Asylbewerberheimen, Lehrer schlugen wegen der Brutalitäten ihrer Schüler Alarm. Grund genug, eine Große Anfrage an die Bundesregierung zu richten. Die Bundesjugendministerin nahm daraufhin in einem Bericht zur „Situation der Jugend in Deutschland“ Stellung.

Darin werden Defizite genannt und mit Zahlen untermauert: Die Behörden nehmen an, daß von Januar 1991 bis April 1992 rund 75 Prozent aller fremdenfeindlichen Straftaten von Jugendlichen unter 20 Jahren begangen wurden. Untersuchungen belegen, daß vor allem in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit junge Menschen zu Verbrechen gegen Ausländer verleitet. Acht Prozent der westdeutschen und 18 Prozent der ostdeutschen 14- bis 27jährigen bekunden außerdem Verständnis dafür, daß Menschen mit Gewalt gegen Asylbewerber vorgehen. 66 Prozent der Befragten im Westen und 58 Prozent im Osten geben dagegen an, sich für die Gewalttätigkeiten gegen Asylbewerber zu schämen.

„Sind Sie stolz darauf, ein Deutscher zu sein?“, wollten die Meinungsforscher ebenfalls von den Jugendlichen wissen. Auch hier zeigten sich Unterschiede zwischen Ost und West: Die Frage bejahten 68 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 47 Prozent der Westdeutschen. Viele Jugendliche scheinen zudem nicht zu wissen, wo und wie sie ihre Freizeit verbringen sollen. Über „fehlende Angebote“ klagen 62 Prozent im Osten und 32 Prozent im Westen.

Entwarnung gibt es auch beim Drogenkonsum nicht. Zwar stehen Jugendliche Suchtmitteln ablehnender gegenüber als noch vor einigen Jahren, es wird jedoch angenommen, daß in den alten Ländern 23 Prozent der jungen Männer und 14,7 Prozent der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren medikamentensüchtig sind.

Neben der Bestandsaufnahme enthält die Antwort des Ministeriums eine Reihe von Wünschen, denen die oppositionelle SPD, aber auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wenig Glauben schenken. Für den jugendpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Ralf Walter, liest sich der Merkel-Report wie ein Märchenbuch. Dort werde eine heile Welt heraufbeschworen, die Politik der Koalition stehe jedoch im Gegensatz dazu. In dem Bericht wird dargelegt, welchen Einfluß die Medien auf die steigende Aggressivität der Jugendlichen haben. Walter erinnert sich daran, wie es der Union vor einem Jahrzehnt nicht schnell genug gehen konnte, die privaten Fernsehanstalten als Konkurrenz zu den Öffentlich-Rechtlichen zu installieren. Es sei „heuchlerisch“, nun über die schlimmen Auswirkungen zu lamentieren.

„Medienerziehung“ soll jetzt in die Lehrpläne aufgenommen werden – so empfiehlt es das Jugendministerium. Diese Forderung aufzustellen koste die Regierung nichts, kritisiert Erdmute Safranski von der Berliner GEW. „Medienerziehung ist sicherlich sinnvoll“, meint sie. Die Forderung stehe aber im Widerspruch zu dem, was zur Zeit an den Schulen geschehe: Die Stundentafel der Schüler werde zusammengestrichen und die CDU fordere, die Schulzeit zu verkürzen. „Wieder einmal soll die Schule Aufgaben übernehmen, die von der Politik nicht gelöst werden“, sagt Walter.

In der Tat sind die Forderungen der Ministerin an die Lehrer groß: Sie sollen zum umweltbewußten Handeln ermuntern, die Integration von Ausländern fördern und die Bereitschaft zur Gewalt mindern. Wie und vor allem wann das alles realisiert werden soll, bleibt offen.

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Quelle: Hans Helmich, „Arbeitslosigkeit bringt Jugendliche auf Abwege“, Der Tagesspiegel, 2. März 1994, S. 4

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