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Ein ostdeutscher Journalist kommentiert das Fehlen deutscher Einheit (25. August 2005)

Im Rückblick auf fünfzehn Jahre Vereinigungsbemühungen betont der Journalist Jens Bisky, Sohn des PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky, die fortgesetzten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen, die den Anspruch auf innere Einheit illusorisch erscheinen lassen. Sein Artikel widmet sich besonders dem „Aufbau Ost“ und stellt die Frage, ob die 1990 versprochenen „blühenden Landschaften“ jemals entstehen werden.

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Deutsche Einheit?
Ost gegen West

Minister Manfred Stolpe spricht von der Halbzeit beim „Aufbau Ost“. Werden also in 15 Jahren die Landschaften blühen im Osten? Und wird es endlich die ersehnte „innere Einheit“ geben. Wohl kaum. Ein Tabu wird ängstlich gehütet: Die deutsche Einheit ist gescheitert.



Man muss sich nicht sehr anstrengen, um als Feind der deutschen Einheit zu gelten und scharfe Ordnungsrufe zu provozieren. Man muss nur von den Tatsachen reden. Davon etwa, dass in Deutschland zwei Teilgesellschaften nebeneinander existieren, dass der Osten heidnischer, unbürgerlicher und ärmer als der Westen bleibt, davon, dass das Unternehmen deutsche Einheit gescheitert ist.

Unverzüglich melden sich die Hüter der Harmonie und klagen an: Wer so rede, gefährde das Zusammenwachsen, an dem uns doch allen gleichermaßen gelegen sein müsse. Auch die Anwälte der Ostdeutschen schweigen nicht: Wer so rede, diffamiere die Menschen, außerdem sei die Gesellschaft in den neuen Ländern in Wirklichkeit vielfältiger als unser Bild von ihr.

Das sind alles faule Ausreden. Der Irrglaube, dass es so etwas gäbe wie eine „innere Einheit", die alle Interessengegensätze und Konflikte überwölben könne, verhindert seit fünfzehn Jahren die freie Debatte über den richtigen Weg beim Aufbau Ost.

Das patriotische Tabu hat der Einheit mehr geschadet als alles andere. Da über die Unterschiede und die substanziell verschiedenen Interessen in Ost und West nicht mit zivilisierter Gelassenheit gestritten wird, da man verbissen versucht, die Existenz von Gegensätzen überhaupt zu leugnen und Unterschiede als bald überwundene marginalisiert, beschert uns beinahe jede Saison einen kurzen Ausbruch innerdeutschen Gezänks.

Jüngst haben Schönbohm und Stoiber neue Anlässe geliefert, und wieder sind Therapeuten und Besänftiger herbeigesprungen, um die Debatte zu beenden, bevor über die interessanten Probleme gesprochen werden konnte.


Andere soziale Temperatur

Wenn heute einer die Karte Deutschlands zeichnen und die Bundesländer farbig markieren würde, je nachdem, wie die Wirtschaft, das Parteiensystem, das soziale Leben, Kultur, Politik, Generationen und Familie sich in ihnen entwickeln, würde er in jedem wichtigen Fall die alte innerdeutsche Grenze auf seiner Karte wiederfinden.

Dass die Wahlergebnisse in den neuen Ländern zuverlässig von der bundesdeutschen Normalität abweichen, frustriert nicht nur den bayerischen Ministerpräsidenten. Die Wirtschaftskraft des Ostens erreicht etwa zwei Drittel des westdeutschen Niveaus. Die Wertschöpfung stagniert bei 63 Prozent des Westens, es fehlen etwa 3000 mittelständische Unternehmen und 700 000 Beschäftigte, die vorhandenen Unternehmen sind zu klein und leiden unter geringer Eigenkapitalausstattung. Das Umsatzvolumen der einhundert umsatzstärksten Unternehmen in den neuen Ländern ist etwa so groß wie das Umsatzvolumen von RWE oder Metro allein. Jede fünfte Erwerbsperson hat keinen regulären Arbeitsplatz, die Abwanderung dauert an. Jeder dritte Euro, der im Osten ausgegeben wird, wurde nicht in den neuen Ländern erwirtschaftet. Anzeichen für eine wirtschaftliche Aufholjagd gibt es kaum.

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