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Ein Stadtplaner beschreibt das neue Regierungsviertel in Berlin (2001)

Der Stadtplaner Günter Schlusche beschreibt die Auswirkungen der neuen Bundesbauten auf das städtische Gefüge und die architektonische Landschaft Berlins. Ihn interessiert dabei nicht nur der Symbolgehalt der profilträchtigen Bauten, sondern auch deren erfolgreiche Integration in die allgemeine urbane Landschaft. Sein weit ausholender Essay beschäftigt sich mit einer Vielzahl von Themen: Geschichte und Erinnerung, aber auch Nutzung und Funktionalität. Schlusche diskutiert zudem den Beschluss, verschiedene Ministerien in vorhandenen Gebäuden im historischen Stadtzentrum unterzubringen und beschreibt die positiven Auswirkungen des Nebeneinanders von Regierungsbehörden und anderen Institutionen innerhalb eines urbanen Kontextes.

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Die Parlaments- und Regierungsbauten des Bundes im Kontext der Berliner Stadtentwicklung


I. Berlin ist viele Hauptstädte

„Berlin ist viele Städte“ – so lautet ein Ausspruch des verstorbenen Berliner Architekten Werner Düttmann. „Berlin ist viele Hauptstädte“ – so könnte man diesen Satz abwandeln und auf die hauptstädtischen Standorte beziehen, die in den letzten 200 Jahren unter den verschiedenen Staatsformen in Berlin gebaut wurden: die Staatsbauten der gerade untergegangenen DDR, die Bauten des Nationalsozialismus, der Weimarer Republik, des Kaiserreichs und schließlich Preußens. Schon 1990, also ein knappes Jahr vor dem Hauptstadtbeschluss des Deutschen Bundestages, legte Berlin ein Kompendium der vorhandenen Liegenschaften vor, dem zweierlei zu entnehmen war:* zum ersten, dass Berlin einen Fundus von für den Bund verfügbaren Gebäuden und Flächen anzubieten hatte, der selbst die weitestgehenden Ansprüche abdecken konnte; zum zweiten, dass der überwiegende Teil der in Frage kommenden Standorte sich in der Alten Mitte, also im historischen Zentrum zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz, befand. Aufgrund der Evidenz dieser Fakten ist es nie zu einer ernsthaften Diskussion über grundsätzliche Alternativen – etwa eine Unterbringung aller Bundeseinrichtungen im Riesenbau des Flughafens Tempelhof oder in den zahlreichen Berliner Kasernen – gekommen. Es hat allerdings einige Zeit gebraucht, bis die große Vielfalt, die diese Standortkulissen in architektonischer wie in funktionaler Hinsicht darstellen, ins Bewusstsein der Vertreter der entscheidenden Institutionen gelangten.

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II. Schwerpunkt Spreebogen

Die wenigsten Fragen stellten sich bei der Wahl des Spreebogens als Regierungsbereich – hier lieferte die Existenz des Reichstagsgebäudes eine eindeutige Vorgabe, zudem war die Verfügbarkeit großer angrenzender Flächen im Bundesbesitz gegeben. Dennoch – die im Oktober 1991 vom Ältestenrat des Deutschen Bundestages getroffene Entscheidung, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Parlaments zu machen, war nicht so selbstverständlich, wie es im Nachhinein scheinen mag.** In der Öffentlichkeit und bei einigen Politikern war das Gebäude als nationalsozialistisch belasteter Bau diskreditiert, seine wilhelminische Architektur stieß auf Missfallen. In der Tat – das trutzige Gebäude, zu Mauerzeiten wie ein erratischer Block am äußersten Rand des Tiergartens im Schatten der Mauer gelegen, hatte nichts Einnehmendes – ganz anders als der von Günter Behnisch in das Rheinufer eingefügte Bundestagsneubau in Bonn. Es bedurfte einer Reihe von Kolloquien und öffentlicher Debatten, um die historische Rolle dieses Baus zu objektivieren, dessen Zweckbestimmung Kaiser Wilhelm verhöhnt und dessen Architektur er zurechtgestutzt hatte.*** Die große öffentliche Zuneigung zu diesem Bau entwickelte sich mit der künstlerischen Aktion von Christo und Jean [sic] Claude im Sommer 1995 und hat seit der Fertigstellung der Kuppel geradezu enthusiastische Züge angenommen. Mit drei Millionen Besuchern in gut zwei Jahren ist dieses Gebäude zu einer internationalen Tourismus-Attraktion vom Rang des Eiffelturms oder des Londoner Towers geworden – für ein Parlamentsgebäude im Zeichen der Politikverdrossenheit eine erstaunliche Entwicklung.



* Arbeitsstab „Hauptstadtplanung Berlin“ (Hrsg.), Rahmenbedingungen und Potentiale für die Ansiedlung oberster Bundeseinrichtungen in Berlin, Berlin 1990.
** Deutscher Bundestag (Hrsg.), 2. Kolloquium Deutscher Bundestag, Berlin 1993, S. 19 ff.
*** Kaiser Wilhelm nannte das Reichstagsgebäude „Reichsaffenhaus“ und verhinderte erfolgreich den Bau einer Kuppel, die höher geworden wäre als die Kuppel des Berliner Schlosses. S. Michael Cullen, Der Reichstag – Die Geschichte eines Monuments, Berlin 1983.

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