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Gewerkschaften im vereinten Deutschland (20. Juni 1990)

Im Sommer 1990 ist für die Gewerkschaften in der DDR das Ende ihrer Existenz bereits vorprogrammiert, doch unterschieden sich die Strategien der westlichen Verhandlungspartner, wie mit ihnen umzugehen sei. Mit der Ausdehnung der westlichen Gewerkschaften auf das Gebiet der DDR gewinnen sie zwar an Mitgliedern, doch kommen diese mit hohen Erwartungen, vor allem bezüglich einer schnellen Lohnangleichung.

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Gewerkschaften beider deutschen Staaten auf dem Wege zum Zusammenschluß
Hoffnungsträger, aber nicht mit Garantie



Mit dem Termin des letzten FDGB-Kongresses im September ist der Endpunkt des Gewerkschaftsbundes in der DDR seit kurzem exakt festgelegt. Dieser Bundeskongreß wird de jure einen Zustand herstellen, der de facto schon lang gang und gäbe ist. Während dem Bund nur noch die Konkursverwaltung bleibt, mühen sich die Einzelgewerkschaften schon seit längerem redlich, ihren Weg in die deutsche Einheit zu ebnen.

Die erste Einzelgewerkschaft, die sich dazu aufraffte und auch in der Öffentlichkeit Zeichen setzte, war die IG Metall. Die beiden Vorsitzenden in Ost und West, Hartwig Bugiel und Franz Steinkühler, gingen aufeinander zu, als man allenthalben noch an eine Erneuerung des Bundes glaubte. Inzwischen versuchen andere Gewerkschaften die Metaller zu überflügeln, zumindest was den Tag der Vereinigung betrifft. Die „Hochzeitstermine“ liegen zwischen September und Jahreswechsel. Erklärtes Ziel bei nahezu allen Gewerkschaften: Sie wollen schneller sein als die Politiker bei der staatlichen Vereinigung, um über die besseren Ausgangsbedingungen zu verfügen. In Anbetracht des Tempos, mit dem vor allem konservative Politiker den einheitlichen deutschen Staat ansteuern, kommen die Gewerkschaften wohl auch nicht umhin, noch einen Zahn zuzulegen. Anderenfalls müssen sie auf den von ihnen gewünschten Startvorteil verzichten.

Zeigen sich die Vorsitzenden der Gewerkschaften aus Ost und West in der Öffentlichkeit auch Schulter an Schulter als Partner, eine Hochzeit von gleichberechtigten Ehegatten wird der Zusammenschluß auf keinen Fall. Die BRD-Gewerkschaften fürchten Rechtsnachfolge und Altlasten der ehemaligen DDR-Gewerkschaften wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb ist in der Regel auch nur die Rede von der Übernahme der Mitglieder. Auf die Mitgift aus dem Vermögen des FDGB indes möchte man aber trotzdem nicht völlig verzichten. Doch vorher ist noch ein gründlicher Kassensturz vonnöten. Bislang vermochte noch niemand so recht Auskunft zu geben, was die einzelnen Gewerkschaften vom Bund erben. Da bleiben bis zum Kongreß im September noch einige Hausaufgaben zu erledigen.

Während in der Metallindustrie die Bahn in die Einheit von Anfang an ziemlich geradlinig verläuft, wählten die Interessenvertreter im öffentlichen Dienst einen Umweg. Die ÖTV (West) half bei der Gründung einer Schwestergewerkschaft in der DDR mit, um auf diese Weise einen Vereinigungspartner zu bekommen. Es bleibt die Vermutung, daß dieser Schritt nicht allein vom Vorhandensein mehrerer Gewerkschaften im öffentlichen Dienst der DDR provoziert wurde. Offenkundig besaß die Spitze der ÖTV in der BRD keine allzu große Neigung, mit den Vorständen der bestehenden Gewerkschaften ohne Umschweife über ein Zusammengehen zu verhandeln.

Ohne Frage gewinnen die BRD-Gewerkschaften durch die wie auch immer gearteten Zusammenschlüsse zumindest quantitativ. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der DDR liegt nahezu überall höher als in vergleichbaren Bereichen in der BRD. Die IG Metall mit 2,7 Millionen Mitgliedern ohnehin schon die größte Einzelgewerkschaft der Welt, gewinnt auf einen Schlag 1,6 Millionen neue Beitragszahler. Vorausgesetzt, die DDR-Kollegen machen alle den Wechsel mit. Eine gewaltige Streit- und Streikmacht also. Und trotzdem, so schätzte Franz Steinkühler vor einiger Zeit ein, tritt damit zugleich eine Schwächung ein. Zwar nicht in finanzieller Hinsicht, da nach Aussage des Hauptkassierers der IG Metall sich die zusätzlichen Ausgaben durch die neuen Mitglieder tragen. Aber die BRD-Gewerkschaften, vor allem eine solch starke und kampferprobte wie die IG Metall, gelten bei den DDR-Beschäftigten als Hoffnungsträger. Vergleiche zwischen den Einkommen hüben und drüben sind schnell angestellt. Und so orientieren sich schon jetzt die meisten Forderungen auch an bundesdeutschen Tarifen. Doch in absehbarer Zeit werden nicht alle Träume reifen. Soviel Realismus ist nötig. Das Ringen um akzeptable Tarifabschlüsse wird auf keinen Fall leichter. Belastungsproben für die vereinigten Gewerkschaften stehen mit Sicherheit ins Haus, auch in den eigenen Reihen.



Quelle: Klaus Morgenstern, „Gewerkschaften beider deutschen Staaten auf dem Wege zum Zusammenschluß/ Hoffnungsträger, aber nicht mit Garantie“, Neues Deutschland, 20. Juni 1990.

Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Neues Deutschland.

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