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Karl Marxs Kritik am Gothaer Programm (April/Mai 1875)

Als die zwei Flügel der deutschen sozialdemokratischen Bewegung sich auf dem Parteikongress von Gotha 1875 zusammenschlossen und die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands bildeten, lehnte Karl Marx (1818-1883) das neue Programm vehement ab. In den Randglossen zum Gothaer Programm, die im Folgenden wiedergegeben sind, erläuterte er seine Einwände und kritisierte den Einfluss des verstorbenen Ferdinand Lassalle (1825-1864) und seiner Anhänger auf die neue Partei. Marx verfasste seine Kritik im April und Mai 1875, bevor der Gothaer Kongress eigentlich stattfand (22.-27. Mai 1875). Marx wünschte, dass seine Ansichten unter einer Reihe von wohlwollenden sozialistischen Anführern verbreitet würden, doch einige darunter konnten an dem Kongress nicht teilnehmen, weil sie im Gefängnis saßen. Das endgültige Programm enthielt viele Punkte, die Marx als unangebracht (oder schlimmer) betrachtete. Selbst Marx’ Anhänger hielten eine Veröffentlichung seiner vernichtenden Kritik bis 1891 nicht für hilfreich.

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Ich komme jetzt zum demokratischen Abschnitt.

A. „Freiheitliche Grundlage des Staats.“

Zunächst nach II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei „den freien Staat“. Freier Staat – was ist das?

Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei“ zu machen. Im Deutschen Reich ist der „Staat“ fast so „frei“ als in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats“ beschränken.

Die deutsche Arbeiterpartei – wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen „geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen“ besitzt.

Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten „heutiger Staat“, „heutige Gesellschaft“ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!

Die „heutige Gesellschaft“ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der „heutige Staat“ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. „Der heutige Staat“ ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von „heutigem Staatswesen“ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.

Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft erleiden? In andern Worten, welche gesellschaftlichen Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher.

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