GHDI logo

Dokumente - Die Reform von Schulen und Universitäten

Ein weiterer Bereich neben der Wirtschaft, in der sich die Reform als quälend schwierig erwies, waren Bildung und Forschung. Die erste Hürde stellte die nach 1990 notwendige Überführung des diktatorischen, teilweise aber auch innovativen ostdeutschen Bildungssystems in sein demokratisches, aber traditionelles westliches Gegenstück dar. Anstatt einige der bewährten und sinnvollen DDR-Praktiken beizubehalten, wie etwa den Unterricht in kleinen Gruppentutorenstunden, fegte der Einigungsprozess das gesamte System beiseite und importierte eine westliche Struktur, die ihrerseits einigermaßen veraltet war (Dok. 1). Ostdeutsche Lehrer, die schon durch die ideologische Kontrolle durch die SED frustriert waren, erlebten den Übergangsprozess als aufreibend, da er nicht nur neue Chancen, sondern auch unerwartete Probleme mit sich brachte (Dok. 9). Wissenschaftler, die sich auf die Wiedererlangung eines gewissen Maßes an akademischer Freiheit und institutioneller Autonomie freuten, sahen sich mit einem Mal mit außeruniversitären Forderungen nach politischer Überprüfung, Kompetenzevaluation und Lehrfächerumstrukturierung konfrontiert, die ihnen den Reformprozess aus den Händen nahmen (Dok. 3). Da sie nicht in die Struktur der Bundesrepublik passte, musste die Akademie der Wissenschaften der DDR mit ihren 24 000 Forschern aufgelöst und einzelne Institute mit einem klarer definierten Auftrag neu organisiert und in die entsprechende westliche Organisation integriert werden (Dok. 11). Insbesondere im ideologisch gefärbten Bereich der Sozialwissenschaften verloren viele Wissenschaftler ihre Stellen und wurden so Teil einer „Zweiten Wissenschaftskultur“ (Dok. 10).

Nach Vollendung des ostdeutschen Transformationsprozesses tauchte die lange aufgeschobene Reformdiskussion erneut auf, nur um große Hindernisse überwinden zu müssen. Das deutsche Föderalsystem gewährt den einzelnen Ländern weitreichende Rechte im Bildungsbereich, die diese eifersüchtig hüten, obwohl sie nicht selten auf zusätzliche Finanzierung durch den Bund angewiesen sind. In dem Bestreben, ihre Klientel zu schützen, neigen Interessengruppen wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Philologenverband und der Hochschulverband dazu, ihren Status quo zu verteidigen. Einer der ersten, der seine Stimme gegen diese Immobilität erhob, war Bundespräsident Roman Herzog, der dazu aufrief, das Bildungswesen moderner, internationaler und wettbewerbsfähiger zu gestalten (Dok. 2). Eine weitere wichtige Initiative war die Arbeit des Zentrums für Hochschulentwicklung, das sich für eine selektive Annahme amerikanischer Modelle einsetzte, um die Universitäten von bürokratischer Bevormundung zu befreien und ihre Qualität durch größere budgetäre Autonomie zu erhöhen (Dok. 6). Doch die Ideologisierung von Bildungsfragen in der Folge von 1968, die liberales Gewährenlassen gegen konservative Disziplin ausspielt, erschwerte einen Reformkonsens.

Impulse von außen waren deshalb nötig, um die Blockade zu überwinden. Die schwachen Ergebnisse deutscher Schüler in der PISA-Studie 2000 lösten in der Öffentlichkeit einen heilsamen Schock aus. Die Studie verglich die Kompetenz im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften unter 15-jährigen Schülern in 31 OECD-Staaten. Die Ende 2001 veröffentlichten Ergebnisse zeigten, dass deutsche Schüler im Vergleich beim Lesen fast ganz unten lagen und auch beim Rechnen nur in der Mitte, womit die schweren Defizite des Bildungssystems unübersehbar wurden (Dok. 5). Die politische Rechte machte die Abkehr von traditionellen pädagogischen Konzepten für das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler verantwortlich. Sie berief sich beispielsweise darauf, dass die traditionellen Unterrichtsmethoden in den südwestlichen Bundesländern bessere Ergebnisse erbracht hätten, während die Linke die Segmentierung des Systems in drei verschiedene Schultypen und die Grenzen des Halbtagsunterrichts für das schlechte Abschneiden als Ursachen sah. Als Vertreterin der fortschrittlichen Lehrer schlug Bildungsministerin für Bildung und Forschung Edelgard Bulmahn deshalb ein Programm zur Umgestaltung in Ganztagsschulen vor (Dok. 7). Auch konservativere Kritiker beklagten das Umhätscheln von Kleinkindern, das ihnen wichtige Lernjahre entzöge und setzten sich für eine Ausweitung der frühkindlichen Erziehung in Form des verpflichtenden Besuchs einer Kindertagesstätte ein (Dok. 13). Ein weiterer Problembereich tat sich auf, als Lehrer der Berliner Rütli-Schule einen Hilferuf verfassten, der die Öffentlichkeit auf die Probleme an ihrer hauptsächlich von Schülern mit Migrationshintergrund besuchten Schule aufmerksam machte (Dok. 12).

Auf Universitätsebene zwang das sogenannte Bologna-Verfahren zur Harmonisierung der Bildungsstrukturen in Europa die Bundesländer zum Handeln. Am 19. Juni 1999 hatten sich in dieser italienischen Stadt neunundzwanzig Länder die Schaffung eines gemeinsamen Raums für die höhere Bildung in Europa bis 2010 vorgenommen, mit kompatiblen Hochschulabschlüssen, erleichterter Mobilität zwischen den Ländern und der Sicherung von Qualitätsstandards. Als Folge beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen (B.A. und M.A.) in das deutsche Hochschulsystem, mit einem für die meisten Studierenden ausreichenden Grundstudium von sechs bis acht Semestern, nachdem der Grad des B.A. verliehen wird. Wer sich weiter qualifizieren will, kann anschließend einen zwei- bis viersemestrigen Zyklus absolvieren, der mit dem M.A. abschließt (Dok. 8). Die recht chaotische Umstellung der Lehrpläne sowie die Erhöhung der Anzahl von Tests unter dem neuen System verärgerten die Studierenden derart, dass sie einen bundesweiten Streik organisierten, der Politiker und Fakultätsmitglieder dazu zwingen sollte, eine „Reform der Reform“ vorzunehmen (Dok. 16).

Dies war das zweite Mal in der jüngeren Vergangenheit, dass Studierende auf die Straße gingen. Die Einführung von bescheidenen Studiengebühren (500 Euro pro Semester) in einigen Bundesländern erregte den Zorn der Studierenden, die bis dahin an kostenfreie Bildung gewöhnt waren (Dok. 4). Eine weitere kontrovers diskutierte Reform war der Vorschlag eines neuen akademischen Dienstgrades, die sogenannte Juniorprofessur, die man auch ohne die beschwerliche Habilitation erreichen konnte (Dok. 14). Eine letzte Initiative, die zum Ziel hatte, deutsche Universitäten international wieder nach oben zu bringen, war der „Exzellenzwettbewerb“, durch den innovative Studienprogramme, vielversprechende Forschungscluster und eine begrenzte Anzahl führender Universitäten in den Genuss der besonderen Förderung durch den Bund gelangen können (Dok. 15).

Liste der Dokumente