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Dokumente - Deutschland und Europa

Die potentiellen Konsequenzen der Vereinigung Deutschlands auf den europäischen Integrationsprozess beunruhigten 1989/1990 vor allem Politiker in Paris und London. Würde das europäische Integrationsprojekt für ein vereinigtes Deutschland nach wie vor den gleichen Stellenwert einnehmen wie bisher? Würde Europa in Zukunft von Deutschland dominiert werden? Der französische Staatspräsident François Mitterrand befürchtete einen Machtverlust für sein Land zugunsten des Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins und bestand auf Zusicherungen, um Deutschlands Verankerung in Europa zu festigen. Um Bedenken aus dem Weg zu räumen und um die Kontinuität der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa zu unterstreichen, einigten sich Bundeskanzler Helmut Kohl und François Mitterrand auf verschiedene Initiativen zur Fortschreibung der europäischen Integration. Dazu gehörte die Beschleunigung des Zeitplans für eine Wirtschafts- und Währungsunion (Dok. 1).

Der Vertrag von Maastricht stellte einen wesentlichen Schritt in der Weiterentwicklung der europäischen Integration dar, was sich symbolisch auch in dem Namenswechsel von Europäischer Gemeinschaft zu Europäischer Union (EU) kundtat. Der Vertrag wurde von den Staats- und Regierungschefs im Dezember 1991 unterzeichnet und musste anschließend in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Dieser Prozess erwies sich schwieriger als angenommen. In der Bundesrepublik trat er erst nach der Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht am 1. November 1993 in Kraft (Dok. 2). Einer der wichtigsten Aspekte des Vertrages beinhaltete die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion und mit ihr die Einführung der gemeinsamen Währung, dem Euro. Als bedeutende Wirtschafts- und Finanzkraft in Europa hat Deutschland sowohl die Beitrittsbedingungen zum Euro als auch die Arbeitsweise der Europäischen Zentralbank (mit Sitz in Frankfurt) maßgeblich bestimmt (Dok. 4). Alle wichtigen Parteien unterstützten die Einführung des Euro, doch standen ihm viele Bürger skeptisch gegenüber, weil die D-Mark als Symbol des Wirtschaftswunders einen ideellen Stellenwert angenommen hatte (Dok. 7).

Während die Einführung der gemeinsamen Währung ohne Zeitverzögerungen vor sich ging und sich auf den internationalen Märkten behaupten konnte, ist die ebenfalls im Maastrichter Vertrag angestrebte Vertiefung der Kooperation in den Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin problematisch. Sie wurde zunächst in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und ein Jahrzehnt später im Krieg gegen den Irak auf harte Proben gestellt. Das Ergebnis war ernüchternd, da sich die europäischen Mitgliedstaaten auf keine gemeinsame Strategie im Umgang mit den streitenden Parteien einigen konnten. Problematisch blieben nach wie vor das Gewicht Europas auf der Weltbühne und das Verhältnis der europäischen Mächte zu den USA (Dok. 8). In Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo wurde zudem die militärische Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten wiederholt unterstrichen. Vermehrt beschäftigte deshalb die Verteidigungspolitiker diesseits und jenseits des Atlantiks die Aufstellung einer eigenen europäischen Einsatztruppe und ihr Verhältnis zur NATO (Dok. 5).

Mit der Vereinigung Deutschlands und dem Niedergang des Kommunismus in Europa war die EU vor die schwierige Aufgabe gestellt, sowohl eine Vertiefung ihrer Aufgaben und Ziele als auch eine Erweiterung ihres territorialen Gebietes zeitgleich vorzunehmen. Die ehemals kommunistisch regierten Länder Mittel- und Osteuropas suchten eine schnellstmögliche „Rückkehr nach Europa“ und damit die Mitgliedschaft in den Bündnisorganisationen NATO und EU. Deutsche Politiker machten sich in diesem Prozess zum Advokaten einer schnellen Integration in beide internationale Organisationen, wobei sie ihren Schwerpunkt vor allem auf die Mitgliedschaft in die EU legten , während die USA bei der Erweiterung der NATO die Führungsrolle übernahmen (siehe Kapitel 8, Dok. 3). Wie auch bei der Einführung des Euro, standen viele Bürger der Bundesrepublik der Osterweiterung der EU kritischer gegenüber als die politische Elite, unter anderem weil sie aufgrund der Billiglohnkonkurrenz um ihre Arbeitsplätze fürchteten (Dok. 10).

Zur positiven Realität eines integrierten Europa gehört das zivile Europa, das sich vor allem in der Mobilität der EU-Bürger und ihrer Reise-, Eß- und Studiengewohnheiten widerspiegelt. Dieses „Europa von unten“ taugt sehr viel mehr als bürokratische Regelungen, ein europäisches „Wir-Gefühl“ aufkommen zu lassen (Dok. 13). Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte in der europäischen Verfassungsdebatte mehr Nachdruck auf gemeinsame europäischer Werte und Kultur legen (Dok. 15). Solange die EU in erster Linie mit technokratischen Maßnahmen der Brüsseler Bürokratie und nicht als Teil einer gemeinsamen erlebten Identität empfunden wird, bleibt die Idee Europas jedoch weitgehend ein politisches Konstrukt (Dok. 16).

Die Ablehnung der Referenda zum EU-Verfassungsvertrag durch die Wähler in den integrationsfreundlichen Staaten Frankreich und Niederlanden im Sommer 2005 machte eindeutig klar, dass das europäische Integrationsprojekt an einen Scheidepunkt gekommen war. Auch wenn der Ablehnung der Verfassungsvertrages vielfältige sowohl nationale wie europäische Gründe zugrunde lagen, so war die Botschaft eindeutig: nur als Projekt der Eliten hatte die Europäische Union keine Zukunft (Dok. 11). In der Bundesrepublik wurde der Verfassungsvertrag ohne großen Widerspruch vom Deutschen Bundestag ratifiziert; ein Referendum, das die Bürger an die Wahlurne gebracht hätte, gab es nicht. Wichtige Aspekte des gescheiterten Verfassungsvertrages wurden in den Vertrag von Lissabon aufgenommen, der unter Federführung der Bundesregierung im Frühjahr 2007 verhandelt wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Doch auch in Deutschland ist nicht zu übersehen, dass mit dem Kompetenzzuwachs der EU und der Erweiterung ihres territorialen Einzugsgebietes die Öffentlichkeit kritischer geworden ist. Eingeklagt wird immer wieder das Demokratiedefizit, da die Entscheidungsprozesse der EU nicht transparent sind und ohne genügendes Mitspracherecht der Bürger vor sich gehen. In der Bundesrepublik wie auch in anderen Ländern ist der Grad an Unwissenheit über die EU und ihre Aufgaben hoch; die Euroskepsis wird dadurch gefördert (Dok. 14). Diese Skepsis wurde durch die Sorge um die Stabilität der Einheitswährung und die Rolle Deutschlands bei der „Rettung“ des Euro als Folge der Finanzkrise im Frühjahr 2009, die durch die Staatsverschuldung Griechenlands ausgelöst worden war, weiter befördert.

Während die ältere Generation der Europapolitiker, wie Helmut Kohl, in der europäischen Integration einen Garant für Frieden und Wirtschaftswachstum sahen (Dok. 3), ist es heute dringlicher denn je neue Formen der Legitimation zu finden. Die EU ist inzwischen weit mehr als nur ein Wirtschafts- und Währungsverbund, aber gleichzeitig weniger als ein traditioneller Nationalstaat. Sie kann zum Beispiel keine direkten Steuern erheben, noch besitzt sie eine eigene Armee. Die Mitgliedsländer unterscheiden sich in ihrer Bereitschaft, nationale Kompetenzen an eine supranationale Organisation wie die EU abzugeben. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in dessen Zentrum ein Kern von Staaten im Vergleich zu anderen Mitgliedsländern bereit ist mehr Souveränität abzugeben, war deshalb in der Vergangenheit immer wieder im Gespräch. Dabei spielten konkrete Machtgesichtspunkte durchaus eine Rolle, da offen ist, ob ein Europa mit mehr als zwei Dutzend Mitgliedern nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Kraft auf der internationalen Bühne übernehmen kann (Dok. 9). Was sind die gemeinsamen Werte die Europäer verbinden und wo liegen die Grenzen Europas? Diese unbeantworteten Fragen kommen vor allem in der Diskussion um die potentielle EU-Mitgliedschaft der Türkei zum Ausdruck (Dok. 12). Die Grenzen der Integration werden angesichts jüngerer Entwicklungen immer deutlicher (Dok. 17). Die Frage ob sie sich vom Staatenbund zu einer Föderation entwickeln soll, wie dies noch am Anfang des Jahrzehnts zur Diskussion gestellt wurde (Dok. 6), steht augenblicklich nicht mehr auf der Tagesordnung. Es geht vielmehr um die Bewahrung und Festigung des Erreichten.

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