GHDI logo

August Bebel, Rede im Reichstag (8. November 1871)

Seite 3 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Meine Herren, wie steht es nun aber mit der Macht dieser sogenannten Volksvertretung überhaupt? Ich habe das schon in meiner letzten Rede über den Militäretat hinlänglich ausgeführt, und es freut mich sehr, daß der Herr Abgeordnete von Treitschke bei der ersten und zweiten Beratung des vorliegenden Antrags meinen Worten, die einige Tage vorher gesprochen waren, vollständig recht gegeben. Der Abgeordnete von Treitschke sagte unter anderem, wenigstens dem Sinne nach: meine Herren, beharren wir bei unserer konservativen Politik, fassen wir nicht Beschlüsse, von denen wir im voraus überzeugt sein können, daß sie nicht die Zustimmung des Bundesrates finden.* Nun ja, das ist das ganze Geheimnis: das heißt deutlicher ausgedrückt: tun wir dem Volke gegenüber, als hätten wir wer weiß was für Macht, und leider Gottes gibt es Millionen und Millionen im Volke, die auf die Einflüsterungen der liberalen Presse hin glauben, eine solche parlamentarische Versammlung sei allmächtig, sie brauche nur zu beschließen, und dann sei es gemacht. Und natürlich, meine Herren, hat der Liberalismus ein großes Interesse daran, diesen Glauben an die Allmacht des Parlamentarismus nicht zu zerstören; denn sonst wären wir mit dem ganzen Parlamentarismus und mit dem Staatssystem, das der Liberalismus aufrecht zu halten sucht, sehr rasch zuende. Also heißt es nach dem Abgeordneten von Treitschke, fassen wir keine Beschlüsse, die nicht die Zustimmung des Bundesrats finden, blamieren wir uns selbst nicht, zeigen wir um Gotteswillen dem Volke nicht, daß wir keine Macht haben und daß unsere Macht, an die es glaubt, eine Illusion ist. Das ist der Grundgedanke seiner Rede gewesen, und kann es anders mit dem Parlamentarismus sein? Seit dem Jahre 1848 haben wir, mit Ausnahme des kleinen Mecklenburg, den Parlamentarismus in Deutschland überall; die Macht, die der Parlamentarismus, der Konstitutionalismus in Deutschland gehabt hat, hat er nur bekommen durch die Bewegung der Jahre 1848 und 49. Bis zum Jahre 1866 hat der Liberalismus, soweit es überhaupt bei seiner Natur zu verlangen ist, auch ehrliche Anstrengungen gemacht, die in den Verfassungen liegenden Keime freiheitlich auszubauen. Meine Herren, seit 1866 hat das vollständig aufgehört, seit dieser Zeit ist der Liberalismus aus der Initiative, die er vorher hatte, von der Offensive, die er vor 1866 öfter ergriff, vollständig in die Defensive gedrängt; heute handelt es sich nicht mehr darum, neue Rechte zu erobern, sondern nur die Scheinrechte, die er hat, zu verteidigen. Und warum, meine Herren? Weil seit 1866 die Macht der Regierungen und speziell der preußischen, die so schon groß war, der Volksvertretung vollständig über den Kopf gewachsen ist. Das ist eine neue Illustration zu der neulichten Äußerung des Herrn Lasker, daß eine kräftige Regierung der Freiheit nicht feindselig zu sein brauche und unter einer starken Regierung die Freiheit am besten gedeihe. Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Regierung stark ist, leidet die Freiheit darunter; die Interessen der Regierungen und der Völker sind Gegensätze. Meine Herren, das Volk ist nicht der Regierung wegen da, sondern die Regierung des Volkes wegen; die Regierung soll den Willen des Volkes ausführen, sie soll nichts weiter sein als die vollziehende Gewalt. Wie steht es aber in Wahrheit? Die Regierungen haben die Macht, die Regierungen haben den Willen, und die Volksvertretung hat einfach ja zu sagen und zu gehorchen, und wenn sie das nicht tut, so gibt man ihr moralische Fußtritte, wie sie dieselben schon so oft bekommen hat. Wir haben das ja erlebt in der vorigen Session, beispielsweise bei der Beratung über die Annexion von Elsaß, wo der Reichskanzler brüsk wie in der schönsten Konfliktszeit aufgetreten ist. Es fällt mir ein anderes Beispiel für die Machtlosigkeit des Parlamentarismus da ein. Der Herr Reichskanzler äußerte in den letzten Tagen, er glaube nach jedem Kriege konstitutioneller geworden zu sein. Ja, meine Herren, auf den ersten Blick könnte das allerdings so scheinen, und jedenfalls der Glaube an die Richtigkeit dieser Ansicht ist es, die den Abgeordneten Lasker neulich zu seinem berühmten Ausspruche veranlaßt hat. Wie steht es in Wahrheit, meine Herren? Nicht der Reichskanzler ist seit dem Jahre 1866 konstitutioneller geworden, sondern die liberalen Parteien, die parlamentarischen Versammlungen sind nachgiebiger geworden, das ist des Pudels Kern. (Große Unruhe.)


*Treitschke sagte am 2.11.1871, Sten. Ber. RT, Bd. 22, S. 102; „Ich bin immer dagegen gewesen, daß der Reichstag leichtsinnig Beschlüsse faßt, welche vergessen, daß ein anderes Haus uns gegenübersteht: das Ansehen des Reichstages kann unter der Wiederholung solcher Beschlüsse leiden.“ [Information aus: Hans Fenske, Hg., Im Bismarckschen Reich 1871-1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 63.]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite