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Franz Hitze, Die Quintessenz der sozialen Frage (1880)

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Wenden wir uns zum Gegenpol – den Lohnarbeitern. Die Notwendigkeit ständischer Organisation hat die Gewerkvereine ins Leben gerufen. Leider sind sie einerseits politische Parteischöpfungen, anderseits entbehren sie des festen Gefüges, dessen sie bedürfen und das ihnen nur die Gesetzgebung sichern kann. Wollen und sollen die Arbeiter aber eine Besserung ihrer Lage erreichen, wollen sie aus ihrer proletarischen Existenz heraus, dann müssen sie sich organisieren. Die Fabrikarbeiter erfreuen sich schon einer ständischen (Schutz-)Gesetzgebung, aber diese bedarf noch einer bedeutenden Ausdehnung. Soll dieselbe durchgreifend und praktisch werden, so muß sie von den Arbeitern selbst in die Hand genommen werden, und das erfordert Organisation. Noch bedeutsamer wird diese, wenn wir das Ziel der Zukunft: Brechung des reinen Lohnsystems – Verwandlung desselben in feste Besoldung – ins Auge fassen. Daß das Verhältnis von Unternehmer und Arbeiter mehr Stetigkeit, mehr Gegenseitigkeit annehmen muß, dem kann doch unser ‚humanes‘ und ‚demokratisches‘ Zeitalter sich nicht auf die Dauer verschließen. Der Lohnarbeiter ist mehr als eine ‚ Ware‘, die bloß gekauft wird, wo und soweit es Profit einbringt. Der Arbeiterstand hat ein ‚Recht auf Arbeit‘, auf den Mitgenuß des (nationalen) Kapitals und seiner Früchte, mag dieses Recht auch noch so ideal, abstrakt und allgemein sein. Daraus folgt aber auch sein Mit-Recht zur Ordnung der Produktion.

Am meisten individualistisch erscheint der Bauernstand. Bauernstolz und Bauerneigensinn wollen noch wenig wissen von ‚zünftiger‘ genossenschaftlicher, ständischer Organisation. Aber die zunehmend industrielle Gestaltung der Produktionsweise, die wachsende Bedeutung der Wissenschaft, der Maschine (Agriculturchemie) und des Kapitals zwingt den Bauer, will anders er sich gegenüber dem Großbetrieb behaupten, sich sozialistisch zu organisieren. Gemeinsame Anlegung von landwirtschaftlichen Schulen, Versuchsstationen, industriellen Anlagen (zur Beschäftigung der Arbeiter im Winter, zur Erhaltung des Abfalles der Fabrikationsgüter, zur besseren Verwertung seiner Produkte auf dem Markte), gemeinsame Verwendung von Maschinen, gemeinsame Meliorationen (Wiesenbau, Dränierung etc.), Konsolidierung der Güter, gemeinsamer Einkauf und Absatz, gemeinsame Bauten (Wege, Remisen etc.) – alles das fordert feste Organisierung, kann, wie der Bauer nun einmal ist, nur zwangsgenossenschaftlich erreicht werden. Dieses aber auch wieder um so leichter, als alle diese Unternehmungen nicht über die (ländliche) Gemeinde hinausgreifen.

Die Notwendigkeit ständischer Gesetzgebung für den Bauernstand wird schon anerkannt. Wucherfreiheit, Wechselrecht und gleiche Erbteilung eignen sich für ihn nicht. Die Ordnung des Erbrechts und des Hypothekenrechts sind wirklich eine Lebensfrage für unsere Bauern. Und doch, eine allgemeine schablonenhafte Behandlung ist hier rein unmöglich; sie muß sich den lokalen, ja den persönlichen Verhältnissen anlehnen. Die Frage der Verschuldung wie die Frage der Erbteilung kann nur von den jedesmaligen Standesgenossen nach den jedesmaligen konkreten Verhältnissen entschieden werden. Wenn eine Ordnung in dieser Beziehung stattfinden, geschaffen werden soll, – und das muß geschehen – dann müssen erst Organe da sein, denen die Ausführung in die Hand gegeben werden kann: der Bauernstand muß sich organisieren.

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