GHDI logo

Gustav Schmoller: Die soziale Frage und der Preußische Staat (1874)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Wären diese einfachen Wahrheiten von der öffentlichen Meinung allgemein anerkannt, so würde in sozialen Dingen ganz anders geurteilt, so stünden wir einer relativen Lösung der Frage viel näher.

Auch die Stellung der leitenden parlamentarischen und Regierungskreise gegenüber der sozialen Frage wäre dann wohl eine andere. Und das halte ich allerdings für sehr wünschenswert.

Gewiß kann das Königtum heute im parlamentarischen Staate, mit freier Presse, freiem Vereins- und Versammlungsrecht nicht, wie im vorigen Jahrhundert, direkt die Führung der unteren Klassen gegenüber den Besitzenden übernehmen. Die Regierung muß eine neutralere Stellung einnehmen; aber sie muß dann auch wirklich neutral über den wirtschaftlichen Klassen sich halten; sie darf nicht jede Forderung des Arbeiterstandes, nicht die ganz innerhalb der heutigen Gesetzgebung sich bewegenden Ziele desselben, welche den Besitzenden unangenehm sind, als gegen sie selbst, gegen die öffentliche Ordnung gerichtet betrachten und mit mißgünstigen Augen verfolgen, wie das wenigstens ab und zu den Anschein nimmt, wie das unstreitig einzelne Staatsorgane tun. Sie gibt alle Traditionen der preußischen Politik auf, wenn sie nur mit den Augen der Besitzenden, mit den Augen der großen Unternehmer die soziale Frage betrachtet, wenn sie bei Enquêten nur die Handelskammern, die naturgemäß ein einseitig egoistisches Interesse vertreten, fragt, wenn sie bei der Gesetzgebung nicht auf das energischste gegen den übergroßen Einfluß sich stemmt, den in allen Vertretungskörpern wie in einer vielfach korrupten Presse heute die großen Privatbahnen, die großen Bank- und Aktionsgesellschaften, die großen Industrien mit ihren bezahlten, wohlgeschulten Agenten ausüben. [ . . . ]

[ . . . ] [D]en Gefahren der sozialen Zukunft kann nur durch ein Mittel die Spitze abgebrochen werden: dadurch, daß das König- und Beamtentum, daß diese berufensten Vertreter der Staatsgedanken, diese einzig neutralen Elemente im sozialen Klassenkampf versöhnt mit dem Gedanken des liberalen Staates, ergänzt durch die besten Elemente des Parlamentarismus, entschlossen und sicher, die Initiative zu einer großen sozialen Reformgesetzgebung ergreifen und an diesem Gedanken ein oder zwei Menschenalter hindurch unverrückt festhalten. [ . . . ]



Quelle: Gustav Schmoller, „Die soziale Frage und der Preußische Staat“, Preußischer Jahrbücher, Bd. 33, 1874, S. 323-42.

Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. verbesserte Aufl. Göttingen: Muster-Schmidt, 1996, S. 66-70.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite