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Warum die soziale Frage von der Regierung aufgegriffen werden muss: eine konservative Sicht (29. Januar 1872)

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Nach meinem ehrerbietigsten Dafürhalten sollte die deutsche Reichsregierung diesen Vorgängen folgen und insbesondere auch ihrerseits mit einer gründlichen Enquête den Anfang machen, wobei ich es als selbstverständlich voraussetze, daß man alles, was auf diesem Gebiet geschieht, mit der größtmöglichsten Publizität behandelt. Außerdem würde es notwendig sein, bei der Auswahl der zu vernehmenden Personen sich auf eine breitere Basis zu stellen und auch die Leute zu hören, welche mit Recht als gründliche Forscher auf diesem Gebiete gelten. [ . . . ]

Nach allen Erfahrungen der Geschichte ist es aussichtslos, einen kräftigen Gedanken lediglich mit materiellen Mitteln bekämpfen zu wollen und es gibt dem jetzt sehr mächtigen katholisch-kirchlichen Gedanken gegenüber nur einen Gedanken, der demselben mit Aussicht auf Erfolg politisch ebenbürtig gegenübergestellt werden kann, nämlich den sozialen, und in der Wechselwirkung dieser beiden Gedanken wird sich nach meinem unvorgreiflichen Dafürhalten die nächste Phase der europäischen Geschichte abspielen.

Die praktischen Vorschläge, welche ich zunächst zu machen haben würde, sind:

1. Niedergang einer Kommission nach dem amerikanischen Vorbilde, um die
Gesetzgebung auf diesem Gebiete vorzubereiten und einzuleiten;
2. Ergänzung der im Handelsministerium begonnenen Sachverständigenvernehmung mit
möglichster Ausdehnung und Publizität;
3. Praktisches Vorgehen mit dem Institut der Fabrikinspektoren oder – wenn die andere
Bezeichnung besser gefallen sollte – der Arbeitsämter.

In der Ausbildung namentlich des letzteren Institutes ist die Möglichkeit einer Organisation gegeben, welche auf dem politischen Gebiet selbst der Organisation der katholischen Kirche nicht bloß gewachsen, sondern sogarn überlegen sein würde. Den materiellen Tendenzen der Gegenwart gegenüber ist der Sozial-Kaiser stärker als selbst der Sozial-Papst. [ . . . ]

Die Massen der Bevölkerung schwanken gegenwärtig, wohin sie sich wenden sollen. Noch hat die internationale Agitation keine breitere Basis gewonnen, obschon man es hier und da darauf abgesehen zu haben scheint, ihr wohlfeile Märtyrer zu machen.

Wohin die Massen sich wenden, wird aber nicht allein politisch und parlamentarisch, sondern auch für den Charakter der Armee schließlich von entscheidender Bedeutung sein. Ganz und dauernd zuverlässig wird diese nur dann sein, wenn die Arbeiter, welche das Hauptkontingent liefern, durch die Leistungen des Reiches für die Reichsidee gewonnen und an diese gekettet werden.



Quelle: Hermann Wagener, Denkschrift an den Reichskanzler Otto von Bismarck, 29. Januar 1872. Abdruck erfolgte in: Horst Kohl, Hg., „Bismarck-Jahrbuch“, Bd. 6,1899, S. 209-14.

Auch abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. verbesserte Aufl. Göttingen: Muster-Schmidt, 1996, S. 51-54.

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