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Ein Armenarzt berichtet aus Berlin (um 1890)

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Hier handelte es sich in der Regel um Menschen mit unbelasteter Aszendenz, um ursprünglich gesunde und starke Männer und Frauen, die den Einwirkungen des Fabrikstaubes, der licht- und luftlosen Wohnung und der unzureichenden Ernährung verfallen waren, oder die sich im Zusammenleben mit anderen Kranken infiziert hatten. Man mußte sie sterben und die Familien zugrunde gehen lassen; gelang es einmal, einen in eine der wenigen damals vorhandenen Anstalten zur Aufnahme zu bringen, so war das fast immer nur eine Atempause; er mußte zurück in seine Beschäftigung, und das gefräßige Tier in seiner Lunge wurde seiner Herr. An dritter Stelle stand die Unzahl der künstlich herbeigeführten Fehlgeburten, die ich nachzubehandeln hatte, verbrochen in schmutzigen Winkeln von noch schmutzigeren Weibern, die ihren Opfern den letzten Pfennig aus der Tasche zogen und oft genug ihnen dauerndes Siechtum oder gar den Tod brachten. Und dann das Heer der Geschlechtskrankheiten, die Prostitution aller Schattierungen, von der eleganten Freundin mehrerer Männer bis herab zur völlig verkommenen unseligen „Tippelschickse“: „der Menschheit ganzer Jammer“ faßt mich noch heute an, wenn ich an all das Elend zurückdenke, das wie ein gespenstischer Film an mir vorüberglitt.



Quelle: Franz Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen. Düsseldorf, 1964, S. 100ff.

Auch abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: C.H. Beck, 1982, S. 248-50.

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